Anonym

Denkanstöße und Diskussionsvorschläge zur möglichen Entwicklung von Projekt(en) und Bewegung(en)

2015

Der folgende Text war ein Beitrag für ein kleines informelles Treffen zwischen deutschsprachigen Anarchisten. Der erste Teil dreht sich um die Frage aus was für einem Grund und mit was für einer Perspektive man sich trifft, auf welcher Grundlage man zusammenkommen und gibt darüber hinaus konkrete Vorschläge für den Beginn der Diskussionen. Dieser Teil wurde im Folgenden nicht abgedruckt.

Die Überlegung eigene, autonome, selbst-organisierte Interventionsprojekte als Dreh- und Angelpunkt zu nehmen, kommt nicht von irgendwo: Die Entwicklung und beständige Weiterentwicklung dieser Projekte auf der Grundlage von gemeinsamen Affinitäten, Analysen und Perspektiven, um in die spezifische soziale Realität intervenieren zu können ist die ständige Spannung und Aufgabe in der wir uns als Anarchisten befinden. Wie minimal deren Ausrichtung und Format und wie zaghaft ihre Umsetzung auch scheinen mag, tut dabei nichts zur Sache, da es bei der Initiierung eines kämpferischen Projektes nicht um erreichte quantitative Dimensionen (die früher oder später ohnehin eine Herausforderung sein werden), schillernd leuchtende Bilder des Erfolges und des Spektakels oder stolze Bilanzen geht. Viel eher geht es um das ständige Streben nach qualitativer Kohärenz, um die gemachten Erfahrungen und die sich so anreichernden Diskussionen, die einem keine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Organisation oder Szene abnehmen kann. Jede Theorie, die nicht auf die Initiierung, Fortentwicklung und Intensivierung solcher selbst-organisierter Projekte hinausläuft, jede Kollektivität, die diese nicht befördert oder gar hemmt, jedes Treffen, das diese nicht als Grundlage des Kampfes und jeder Anarchist, der diese nicht entwickelt, ist einen feuchten Dreck wert.
Dies klar gestellt, möchten wir auf einige Punkte, die solcherlei anarchistische Projekte des Kampfes betreffen, eingehen, da sie uns recht dringlich erscheinen, wir ihnen aber in der Realität recht oft hilflos gegenüber stehen. Die schemenhafte Darstellung betont den Bedarf, theoretisch und praktisch vertieft, ergänzt und überdacht zu werden. Es handelt sich um Vermutungen und Hypothesen, und nicht um der Weisheit letzter Schluss.

- Kommunikation:In Zeiten der alles umklammernden sozialen Isolation müssen wir uns fragen, wie wir unsere Ideen und Kritiken, unsere Analysen und Perspektiven, unsere Vorschläge zum Kampf und die Adressen unserer Feinde kommunizieren, also verständlich machen können. Jeder Versuch, der meint, ein bestimmtes Instrument als Patentlösung gefunden zu haben, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Es geht viel eher um die phantasievolle und innovative Kombination von Verschiedenstem[1], denn erst so können wir die Beschränktheit des Symbolhaften, die Sektenattitüde der Prediger und die Distanziertheit der Politik überwinden. Da Kommunikation nicht schlicht Agitation bedeutet, müssen wir uns fragen, wie wir Möglichkeiten für Begegnungen, Verständigung, Diskussionen, eine gewisse Ansprechbarkeit und so die mögliche Entstehung von kämpferischen Beziehungen entwickeln können. Die Stimulation von Diskussionen bezieht sich sowohl auf die Affinitätsgruppe als auch auf das soziale Terrain auf dem diese interveniert. Wenn wir über das Schüren von Feindschaften, von Diskursen, vom Überbringen einer partiellen oder generellen Kritik sprechen, sprechen wir auch stets vom Ineinandergreifen von Wort und Tat, von Möglichkeiten einer besseren Verzahnung und von der gegenseitigen Befruchtung dieser.

- Provokation:

Da wir uns stets in der Position einer Minderheit befinden werden, müssen wir uns fragen, wie wir, ohne notwendigerweise die Mehrheit zu werden oder zu überzeugen, Entwicklungen anstoßen können, die über ihren spezifischen Kontext des Entstehens hinaus gehen. Wie bei einer chemischen Reaktion kann die Ahnung oder das Wissen genügen, um unter den richtigen Umständen und zum richtigen Zeitpunkt auf bestimmte Weise handeln zu müssen und ein gewisses Element ins Spiel zu bringen, welches einen ungeahnten Prozess auslöst und die Zustände zum Überschäumen oder Explodieren bringt. Dieses notwendige Feingefühl, den Zahn der Zeit zu treffen (oder auszuschlagen) können wir nicht dem puren Zufall überlassen, sondern müssen viel eher die Notwendigkeit und Signifikanz von kreativen Experimenten betonen. Sowohl eingebettet in den Kontext eines aufständischen Projekts[2], als auch außerhalb von diesem kennt dieses Experimentieren kein Tabu, da es ja gerade provozieren, zum Positionieren, zum Aufregen und Handeln anregen will und so stets das Altbekannte meidet: Sowohl die Benutzung des Falschen[3] (als Spiel mit sozialen Rollen und Identitäten), die Überspitzung von Thesen, der richtige Nadelstich an der richtigen Stelle als auch das Element, das durch seine massenhafte Verbreitung den Flächenbrand möglich macht, sind Anhaltspunkte um Dynamiken auszulösen, die ungeahnten Charakter haben. Zu große Hoffnungen können allerdings zu voreiligen Erscheinungen der Ermüdung und Frustration bei dem Experimentierenden führen.

- Agilität: Der Sinn und Unsinn jeder Bezugsgruppe, jedes zusammengetrommelten Mobs oder tatkräftigen Zusammenhangs misst sich am Grad der Agilität. Damit ist eine gewisse Beweglichkeit, eine flinke Lebendigkeit gemeint, die sich sowohl im gemeinsamen als auch im alleinigen Agieren zeigt und die Steigerung der Fähigkeit zum Ziel hat, sich selbst ohne Vorgabe oder Beschluss unabhängig zu organisieren. Agilität ist das Ergebnis von verschiedensten Eigeninitiativen, die spontan oder geplant entstehen und zusammen kommen. Agilität ist eine Bedingung als auch ein Produkt der Informalität: Die erhoffte Multiplikation der Initiativen ist kein zwingendes Ergebnis informeller Zusammenhänge, da der Zentralismus, die Fixierung auf bestimmte Personen und deren Meinungen und Vorschläge und die so entstehende Abhängigkeit relativ stetig aufkeimt und sich meist je nach Länge des Bestehens verfestigt. Diesen Trend gilt es zu bekämpfen, indem Organisierung sich fortan nicht auf die gemeinsamen Treffen und Besprechungen konzentriert, sondern eine gemeinsam erprobte tägliche Praxis wird: Das Treffen von Verabredungen, das Schmieden von individuellen und kollektiven Plänen, das Setzen von kleineren und größeren individuellen und kollektiven Etappenzielen, Vorschläge unterbreiten, Erfahrungen machen, agieren und reagieren, diskutieren, probieren, resümieren und all das ohne jegliche groß angelegte Struktur oder irgendeinen planmäßigen Ablauf, sondern als eine mit Eigeninitiative stehende und fallende chaotische Praxis, die von Lust und Laune, von Hass und Rachegelüsten, von Bedürfnis und Verlangen abhängig ist. Dabei gilt es, nicht alles der Spontaneität zu überlassen, sondern gerade durch Pläne und Organisationsfähigkeit Spontaneität möglich und sinnvoll zu machen. Stichwort: Kontinuität. Ohne unbedingt nach stetiger Steigerung zu suchen, ist Kontinuität der Boden auf dem all das entstehen kann und der ein Fingerspitzengefühl für das Mögliche gedeihen lässt.
Durch kontinuierliche magnetische Anziehung und Abstoßung finden Individuen die Nähe bzw. den Abstand, der ihnen genehm ist und ihrer momentanen Affinität entspricht. Umso mehr Individuen durch kontinuierliche gemeinsame Erfahrungen in wechselnden Kombinationen und Konstellationen das Gefühl haben, eine vertrauenswürdige Nähe zu anderen gefunden zu haben, desto möglicher wird es, auch unter Umständen, die ihnen extrem feindlich gegenüber stehen, den Trott des Alltags gemeinsam zu durchbrechen. Kollektive Agilität bedeutet gemeinsame Stärke, die durch jede einzelne Komponente geprägt wird.

Wenn dies mögliche Stoßrichtungen eines aufständischen Interventionsprojekts sind, welches seinen eigenen Charakter durch die Schnittmenge aller Stoßrichtungen erhält, was ist dann der Bezug, der verschiedene unterschiedliche Projekte zusammen bringt? Eine Bewegung? Eine internationale anarchistische Bewegung? Gibt‘s so was überhaupt?
Wenn man davon ausgeht, dass sich dieser Begriff nicht auf eine Masse von einer Idee Bewegten bezieht, sondern auf die Bewegungen, die von den sich bewegenden Anarchisten und ihren Kämpfen ausgehen, macht sich diese Bewegung in unserem Kontext nicht spürbar[4]. Wir können nicht behaupten, dass das zu unseren Lebenszeiten je anders gewesen wäre und deswegen bleiben uns nur Mutmaßungen, was eine solche Bewegung heißen könnte und wir haben nur grobe Ideen, was es hieße, solche Bewegungen anzustoßen. Doch beginnen wir mit einer Abgrenzung, denn zu wissen, was man nicht will, heißt auch eine Ahnung davon zu bekommen, was man will: Obwohl wir einen größeren Rahmen, der von gemeinsamen Kämpfen einer anarchistischen Bewegung spricht, auf diesen Breitengraden viel mehr für eine Vorstellung anstatt eine Realität halten, scheinen sich jedoch einige Individuen und Kollektive regelmäßig auf eine gewisse (Anarchistische? Autonome? Linke?) Bewegung zu beziehen. Die Existenz und die Selbstrechtfertigung dieser Bewegung scheint sich eher aus der Existenz einer „Ansammlung von Orten, Infrastrukturen, kommunisierten Hilfsmitteln“ zu speisen, wodurch „die Träume, die Körper, das Gemurmel, die Gedanken und Sehnsüchte, welche sich zwischen diesen Orten bewegen, die Nutzung dieser Mittel, das Teilen dieser Infrastruktur“ zu den konstituierenden Elementen wird. Diese Ansammlung erfolgt nach dem Prinzip „Nichts ist schlecht bis auf das, was dem Anwachsen unserer Stärke schadet.“. Wenn diese „Orte“, „wo wir kooperieren“ geschaffen sind, wenn wir „uns wieder sammeln“, wieder „eine Richtung“, eine ausgearbeitete „kollektive Strategie“ haben, „geht es darum, sich die Mittel zu schaffen, die Ebene zu finden, auf der die Gesamtheit der Fragen gelöst werden kann, die, wenn sie jedem einzeln gestellt werden, in die Depression führen“. Darum „sich auf der Grundlage unserer Bedürfnisse zu organisieren – fortlaufend auf die kollektive Frage nach essen, schlafen, denken und sich lieben zu antworten; Formen zu schaffen, unsere Kräfte zu koordinieren“ und diese „Angelegenheit einer unmittel baren Kollektivierung, der Konstruktion einer wirklichen Kriegsmaschine, des Aufbaus der Partei“ als „einen Moment des Krieges gegen das Empire aufzufassen“.

Mir scheint, dass die Vorstellung einer Bewegung recht oft deckungsgleich mit der hier aus dem „Aufruf“ zitierten Auffassung einer Partei als eine zu konstruierende „Spur bewohnbarer Orte“ ist. Eine Bewegung oder Partei, die nicht durch eine gemeinsame Idee, was es heißt zu kämpfen zusammen gehalten wird, sondern durch das Annehmen und Teilen sozialer Rollen und Identitäten, die Lösungen für individuelle soziale Probleme finden und diktieren. Diese Bewegung bewegt sich nicht aus eigener Kraft und eigenem Antrieb, sondern wird mobilisiert, verwaltet, gelenkt und verteidigt. Sie versucht, eine gesellschaftliche innere Front nach der Logik des Bürgerkriegs zu ziehen und macht Bewegungen nicht vom eigenen Denken und Handeln abhängig, sondern vom Partei ergreifen, davon, möglichst viele zu sammeln und kooperieren und kollektivieren zu lassen. So wächst die über alles thronende Stärke der schleierhaften Partei an, die viel mehr danach strebt, alles zu übernehmen und sich wieder anzueignen, als hier und jetzt einen Bruch mit dem Bestehenden zu erzeugen.

Unsere Auffassung von Stärke kollidiert auf ganzer Linie mit dem appellistischen Konzept von Stärke: Gemeinsame Stärke entsteht da, wo sich Individuen aus gegenseitiger Freude aneinander, aus egoistischem und nicht parteipolitischen Interesse an dem Gegenüber zusammen tun um Gedanken und Projekte zu entwickeln. Um so intensiver die Auseinandersetzung mit sich selbst, den Gefährten und der Realität wird, desto mehr Spielräume ergeben sich in der Praxis und desto intensiver die Praxis wird, desto eher springt ihre spielerische Freude auf andere, verstreute Individuen über, die vielleicht die Initiative ergreifen, eine Idee oder ein Projekt ebenso durch den eigenen Beitrag oder die eigene Kritik zu bestärken. Diese Bestärkung bedarf nicht das Verschmelzen zu einem geeinten Kollektiv, da es nicht auf die Konstituierung einer Gegenmacht oder die Vermassung der Einzelnen abzielt, sondern im Gegenteil gerade die verstreute, asymmetrische Konstellation des Kampfes befeuert. Die Asymmetrie des Konflikts baut nicht darauf, dass eine gemeinsame soziale Identität angenommen wird um in der Gesellschaft eine gesonderte gemeinsame Rolle anzunehmen. Viel eher erkennt sie, dass wir als Ausgeschlossene immer außerhalb dieser Gesellschaft stehen und im Kampf gegen die Gesellschaft nie eine von ihr anerkannte Rolle oder Front in ihr zu gesprochen bekommen werden. Also gilt es, die Frage auf zu werfen, wie man Verbindungen zwischen den verschiedensten Ausgeschlossenen schlagen kann, wie man einen sozialen Kampf mit antisozialer Intention führen kann, ohne den Protagonisten das Programm einer festen Rolle oder die Gesetzmäßigkeiten eines Kollektivs aufzubürden. Wie man im sozialen Konflikt eine Methode überbringen kann, die für jeden auf Grundlage der eigenen Verlangen praktikabel ist. Wie man Momente der Bündelung und Eskalation erzeugen kann, die durch die Vielzahl der kulminierenden Praktiken aufständische Möglichkeiten bergen.

Wenn wir Antworten auf diese Fragen finden werden, dann nur in der Realität konkreter Projekte und Kämpfe. Doch vielleicht könnte das Suchen nach diesen Antworten nachhaltiger werden und sich das unnötige Erfahren von bereits gemachten Fehlern ersparen, wenn die Stoßrichtung spezifischer Kämpfe und Projekte sowohl von anderen aufgegriffen und so über einen lokalen Kontext hinweg bestärkt würde als auch wenn sie einen Punkt zur Reflexion und Koordination für die schaffen würde, die erkennen ähnliche Bewegungen anstoßen zu wollen. Wenn der Begriff Bewegung für uns Sinn macht, dann wohl am ehesten dieser... welche Rolle könnten Treffen wie dieses spielen, um solche Bewegungen zu entwickeln? Welche Bedeutung kommt persönlichen Bekanntschaften, persönlichem Austausch und dem Reisen und Rotieren von Ort zu Ort zu? Und der gemeinsamen Ausarbeitung und Verbreitung von Theorie? Machen öffentliche Diskussionen, Treffen oder Buchmessen Sinn? Was könnte die Entwicklung von überregionalen Projekten bedeuten? In wie weit sind wir fähig, spontan Anstöße aufzugreifen und auf unsere eigene Art und Weise daran anzuschließen? Welche Rolle hat Solidarität und Kritik innerhalb und für eine Bewegung? Und ist es zu diesem Zeitpunkt und angesichts dieser Zeiten überhaupt denkbar und möglich, eine solche Bewegung ins Rollen zu bringen?

[1] Nachträgliche Bemerkungen zum besseren Verständnis: Gemeint ist jedes Mittel, dass Anarchisten kreieren um ihre Ideen zu artikulieren, wie Flugblätter, Parolen, Broschüren, verteilte Zeitungen, Bücher, Plakate, oder wenn die Notwendigkeit entsteht, die Kreierung von bestimmten Zeitschriften oder Editionen um bestimmte Aspekte mehr zu vertiefen.

[2] Gemeint ist jedes Projekt, das im Gegensatz zu einer zeitlich begrenzten punktuellen Intervention, auf längere Sicht hin gegen einen oder mehrere Aspekte der Herrschaft vorgeht und so einer tieferen Analyse und einer so entstehenden präziseren Hypothese, wie es an jenem Punkt womöglich zu einem Bruch mit der Realität kommen könnte, entspringt.

[3] Wie beispielsweise die gezielte Verteilung von falschen Informationen, gefälschten offiziellen Schreiben, die je nach dem Versprechungen machen, befehlen oder auffordern oder schlicht die Fakten auf den Tisch bringen.

[4] In dem Sinne nicht spürbar, als dass sie die Kraft besäße auf die uns umgebenden Lebensumstände maßgeblich einzuwirken oder diese gar zu verändern, oder eine Bedeutung in dem Leben der großen Mehrheit der Leute hätte.


Entnommen aus "Avalanche – Anarchistische Korrespondenz", Nr. 5, ohne Ort, Juli 2015, S. 21-3.