Alfredo M. Bonanno

Insurrektionalistischer Anarchismus

1999

Die These, die hier unterstützt wird, geht aus einem langen Parcours von Kämpfen und Überlegungen hervor, es ist eine mühselige und komplexe These, nicht nur schwierig darzulegen – was ein Versagen des Autors sein könnte – sondern auch, in wenigen klaren Grundbegriffen, ein für alle Male festzuhalten.

Hierin liegt der Widerspruch: dieses ganze Buch [Anarchismo insurrezionalista], das in verschiedenen Zeiten, in der Spanne von ungefähr fünfzehn Jahren entwickelt wurde, ist beeinflusst von der Dringlichkeit und der Leidenschaft des Moments, diese Einleitung, auf kalte Weise, nicht. Hier habe ich die anatomische Absicht, die meinem ganzen Selbst zuwider läuft, die fundamentalen Grundbegriffe des insurrektionalistischen Anarchismus darzulegen. Ist das möglich? Ich weiss es nicht. Ich werde es versuchen. Wenn die Lektüre dieser einleitenden Notizen das legitime Verlangen des Lesers nach frischer Luft gefährden sollte, so möge er sie mit einem Satz überspringen und links liegen lassen.

Der Aufstand von grossen Massen, oder von einem ganzen Volk, setzt, in einem bestimmten Moment, einige bereits vorhandene Elemente voraus, setzt zersetzte soziale und ökonomische Bedingungen, wenn nicht geradewegs eine Situation extremer Unfähigkeit vonseiten des Staates, die Ordnung und die Achtung der Gesetze aufrechtzuerhalten, voraus, aber er setzt auch Individuen und Gruppen von Individuen voraus, die fähig sind, diese Zersetzung über die äusserlichen Anzeichen hinaus, womit sie sich ausdrückt, zu erfassen. Das heisst, es ist erforderlich, von Mal zu Mal, fähig zu sein, über die oft zufälligen und sekundären Beweggründe hinaus zu sehen, die die ersten aufständischen Brennpunkte, die ersten Konfrontationen, die ersten Scharmützel begleiten, zu dem Zweck, den eigenen Beitrag an den Kampf zu liefern und ihn nicht, im Gegenteil, zu bremsen oder als simple und zusammenhangslose Unduldsamkeit gegenüber dem jeweiligen politischen Regiment unterzubewerten.

Aber wer sind die Individuen, die darauf vorbereitet sind, sich dieser Aufgabe zu stellen? Es könnten die Anarchisten sein, nicht wegen einer grundlegenden ideologischen Entscheidung, wegen ihrer deklarierten Verneinung von jeglicher Autorität, sondern vielmehr wegen der kritischen Fähigkeit, die sie besitzen müssten, Kampfmethoden und organisatorische Projekte einzuschätzen.

Ausserdem kann nur, wer rebelliert, wer schon rebelliert hat, und sei es auch im Mikrokosmos des eigenen Lebens, wer sich den Konsequenzen dieser Rebellion gestellt hat und sie bis aufs Äusserste erlebt hat, die sensiblen Nerven und die notwendigen Intuitionen haben, um die Zeichen der laufenden aufständischen Bewegung zu erfassen. Nicht alle Anarchisten sind Rebellen, und auch nicht alle Rebellen sind Anarchisten. Um die Dinge zu verkomplizieren, kommt die Tatsache hinzu, dass es nicht ausreicht, ein Rebell zu sein, um die Rebellion der anderen zu verstehen, es ist auch erforderlich, sich zum Verständnis, zur Vertiefung der ökonomischen und sozialen Bedingungen zu disponieren, die man vor sich hat, und sich nicht vom Hochwasser der eklatanten Manifestierungen der volkstümlichen Bewegung mitreissen zu lassen, selbst wenn diese letztere mit Wind in den Segeln loszieht und die ersten Erfolge die Flaggen der Illusion hissen lassen. Die Kritik ist immer das erste Instrument, der Punkt, wovon es auszugehen gilt, aber möge sie eine teilnehmende Kritik sein, eine Kritik, die das Herz miteinbezieht, die die Emotion der effektiven Konfrontation gegen die ewigen Feinde zum Pochen bringt, mit ihren aufgelösten Gesichtern zum ersten Mal im Staub, und nicht eine mürrische Abschätzung der Pros und Kontras.

Aber ein Rebell genügt nicht, und auch wenn sich hundert Rebellen zusammentun, würden sie nicht genügen, es wären hundert tobende Moleküle im zerstörerischen Wettstreit der ersten Stunden, wenn der Kampf wild auflodert und alles mit sich reissend um sich greift. Die Rebellen sind wichtige Figuren, als Beispiel und als Antrieb, aber letzten Endes unterliegen sie gegenüber den Anforderungen des Moments. Je mehr sie ihr Gewissen zum Angriff steuert, der oft blind ist, wie sehr er auch effizient und radikal ist, umso mehr werden sie sich selber einer unüberwindlichen Grenze bewusst, gelingt es ihnen nicht, eine organisatorische Mündung zu sehen, warten sie darauf, dass die Vorschläge von den revoltierenden Massen kommen, ein Wort hier, eines da, inmitten der Konfrontation selbst oder in den Momenten von Rast, wenn alle reden wollen, in Erwartung, den Kampf wieder aufzunehmen. Und sie halten sich nicht bewusst, dass es auch in diesen berauschenden Momenten stets die Politiker gibt, die auf der Lauer liegen. Die Massen, ausserdem, haben nicht die Tugenden, die wir oft geneigt sind, ihnen zuzugestehen. Die Versammlung ist sicherlich kein Ort, um das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, aber das eigene Leben wird aufs Spiel gesetzt von den Entscheidungen, die in der Versammlung getroffen werden. Und die Politikertiere, die in diesen kollektiven Momenten ihre Köpfe heben, haben stets klare Ideen darüber, was es vorzuschlagen gilt, haben in der Tasche ein schönes Programm der Rekuperation, der Rückkehr zur Normalität, des Aufrufs zur Ordnung bereit. Sicher, sie werden kein Wort sagen, das weniger als korrekt ist, politisch gesehen, meine ich, und folglich werden sie für Revolutionäre gehalten werden, aber es sind stets sie, die immerselben Politikertiere, welche das Fundament für den Wiederaufbau der künftigen Macht legen, diejenige, die den revolutionären Antrieb rekuperieren wird, ihn in Richtung von gemässigteren Vorschlägen ausrichtend. Lasst uns die Zerstörungen in Grenzen halten, Kameraden, ich bitte euch, schliesslich sind wir am zerstören, was uns gehört, usw.

Vor den anderen schiessen, und schneller als sie, das ist eine Tugend aus dem Wilden Westen, gut für einen Tag, danach muss man den Kopf zu gebrauchen wissen, und den Kopf zu gebrauchen, bedeutet, ein Projekt zu haben.

Und der Anarchist kann nicht bloss ein Rebell sein, er muss ein Rebell sein, der mit einem Projekt bewaffnet ist. Das heisst, er muss das Herz und den Mut mit der Kenntnis und der Bedachtheit der Aktion vereinen. Seine Entscheidungen werden daher stets vom Feuer der Zerstörung erhellt, aber vom Holz der kritischen Analyse genährt werden.

Nun, wenn wir einen Moment nachdenken, so gibt es kein Projekt, das aus dem Stegreif, wie man sagt, inmitten des Getümmels entstehen kann. Es wäre dumm, zu denken, dass alles vom aufständischen Volk auskommen muss, ein blinder Determinismus, der droht, uns geknebelt in die Hände des erstbesten Politikers zu übergeben, der, auf einen Stuhl gestiegen, einige organisatorische und programmatische Linien vorzuschlagen weiss, während er mit vier rhetorisch aneinandergereihten Worten Sand in die Augen streut. Wenn der Aufstand zu grossen Teilen ein revolutionärer Moment von grosser kollektiver Kreativität ist, ein Moment, der analytische Vorschläge von beachtlicher Intensität hervorbringen kann (denkt an die aufständischen Arbeiter der Pariser Kommune, die auf die Uhren schossen), so kann er nicht die einzige Quelle von theoretischer und projektueller Vertiefung sein. Die höchsten Momente des bewaffneten Volkes räumen, das schon, zuvorige Zögerungen und Unsicherheiten vom Tisch, führen deutlich vor Augen, was zuvor verschwommen war, aber sie können nichts erhellen, was nicht da ist. Diese Momente sind der mächtige Scheinwerfer, der ein revolutionäres und anarchistisches Projekt realisierbar macht, aber dieses Projekt, und sei es nur in seinen methodologischen Linien, muss schon vorher existieren, muss schon vorher, wenn auch nicht in allen Details, ausgearbeitet und, so weit wie möglich, erprobt worden sein.

Auf der anderen Seite, wenn wir in die Massenkämpfe, in Auseinandersetzungen für intermediäre Forderungen intervenieren, tun wir das dann etwa nicht praktisch ausschliesslich, um unser methodologisches Erbe vorzuschlagen? Dass die Arbeiter einer Fabrik Arbeit verlangen und versuchen, die Entlassungen zu verhindern, dass eine Gruppe von Obdachlosen versucht, sich eine Unterkunft geben zu lassen, dass die Gefangenen für ein besseres Leben in den Strafanstalten streiken, dass die Studenten gegen eine kulturlose Schule rebellieren, das alles interessiert uns bis zu einem gewissen Punkt. Wir wissen sehr gut, wenn wir uns als Anarchisten an diesen Kämpfen beteiligen, dass, egal wie sie ausgehen werden, die Entsprechung in quantitativen Begriffen, das heisst als Anwachsen unserer Bewegung, sehr relativ ist. Oft vergessen die Ausgeschlossenen auch, wer wir sind, und es gibt keinen Grund auf der Welt, um sich an uns zu erinnern, geschweige denn von einem Grund, der auf der Dankbarkeit beruht. Tatsächlich sind wir des Öfteren gefragt worden, was wir eigentlich dort machen, als Anarchisten und somit Revolutionäre, inmitten von diesen fordernden Kämpfen, wir, die gegen die Arbeit, gegen die Schule, gegen jegliches Zugeständnis vom Staat, gegen das Eigentum und sogar gegen jede Art von Verhandlung sind, die graziös ein besseres Leben in den Gefängnissen gewährt. Die Antwort ist simpel. Wir sind dort, weil wir Überbringer einer anderen Methode sind. Und unsere Methode nimmt Gestalt an in einem Projekt. Wir stehen den Ausgeschlossenen, in diesen intermediären Kämpfen, zur Seite, weil wir ein anderes Modell vorzuschlagen haben, jenes, das auf der Selbstorganisierung der Kämpfe, auf dem Angriff und auf der permanenten Konflikthaltung basiert. Dies ist unsere Stärke, und nur falls die Ausgeschlossenen diese Angriffsmethode akzeptieren, sind wir dazu bereit, gemeinsam mit ihnen zu kämpfen, sei es auch für ein Ziel, das an und für sich von fordernder Natur bleibt.

Eine Methode würde dennoch toter Buchstabe, eine Anhäufung von bedeutungslosen Worten bleiben, wenn es ihr nicht gelingt, sich in einem Projekt zu artikulieren, ein Projekt, das fähig ist, ausgehend von dem spezifischen Problem, vor dem die Ausgeschlossenen stehen, Substanz anzunehmen. Viele besorgte Kritiker des anarchistischen Insurrektionalismus wären wieder in ihren unterbrochenen Schlaf zurückgekehrt, falls sie diesem Aspekt Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Was nützt es, uns vorzuwerfen, auf methodologischen Ansprüchen blockiert zu sein, die hundert Jahre alt sind, wenn man dem, was wir sagten, keine Aufmerksamkeit geschenkt hat? Der Insurrektionalismus, von dem wir sprechen, ist etwas anderes als die glorreichen Tage auf den Barrikaden, auch wenn er, in gewissen spezifischen Momenten, die angemesseneren Vorschläge für einen Kampf in der Hand haben kann, der sich auf eine Konfrontation auf den Barrikaden ausrichtet. Nur, dass er an und für sich, als revolutionäre Theorie und Analyse, als Methode, die in einem Projekt verkörpert wird, diesem apokalyptischen Moment nicht unbedingt Rechnung trägt, sondern sich ungeachtet von Fahnengeflatter und Gewehrgefunkel entwickelt und vertieft.

Viele Gefährten sind sich der Notwendigkeit des Angriffs vollkommen bewusst und bemühen sich so sehr sie können, ihn zu realisieren. Sie verspüren konfus die Schönheit der Konfrontation und der Auseinandersetzung gegen den Klassenfeind, aber wollen sich nicht einem Minimum an kritischer Reflexion unterziehen, wollen nichts von revolutionären Projekten hören, und beharren, auf diese Weise, darauf, den Enthusiasmus ihrer Rebellion zu verschwenden, der, sich in tausend Rinnsale ausrichtend, darin endet, in kleinen und losen Manifestierungen von Unduldsamkeit zu versiegen. Es gibt, selbstverständlich, keine einheitliche Typologie von diesen Gefährten, man kann sagen, dass jeder von ihnen ein separates Universum darstellt, aber das, was alle, oder praktisch alle gemeinsam haben, ist ein Überdruss für jeglichen Diskurs, der Klärungen von methodologischer Natur vorsieht. Die Unterscheidungen sind ihnen überdrüssig. Was hat es für einen Sinn, sagen sie mir, von Affinitätsgruppen, von informeller Organisation, von Basiskernen, von Koordinationen zu sprechen? Ist etwa nicht alles klar, der Missbrauch und die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die Brutalität der Macht, sind sie nicht hier vor uns, gut sichtbar, werden sie nicht in Menschen und Dingen realisiert, die sich unter der Sonne ausbreiten, als gäbe es nichts, was sie stören könnte? Was bringt es, sich mit Diskussionen aufzuhalten, die bloss Zeitverschwendung sind? Wieso nicht sofort angreifen, hier und jetzt, ja, wieso uns nicht auf die erste Uniform stürzen, die in greifweite kommt? Im Grunde war selbst eine “besonnene” Person wie Malatesta in einem gewissen Sinne dieser Ansicht, als er sagte, dass er die individuelle Rebellion dem Attentismus vorzieht, der darauf wartet, um zu handeln, bis die Welt auf den Kopf gestellt wurde.

Ich persönlich habe da noch nie etwas dagegen gehabt, im Gegenteil. Die Rebellion ist der erste Schritt, die grundlegende Bedingung, damit die Brücken hinter unserem Rücken niedergebrannt werden, damit die Verbindungen, die uns, mit tausenden äusserst starken Fäden, an die Gesellschaft und an die Macht binden, wenn nicht durchtrennt, so zumindest geschwächt werden, die Verbindungen mit der Familie, mit der herrschenden Moral, mit der Arbeit, mit dem Gehorsam gegenüber den Gesetzen. Aber ich glaube, dass dieser Schritt nicht genügt. Ich glaube, dass wir weiter gehen müssen, dass wir über die Möglichkeiten nachdenken müssen, unserer Aktion eine grössere organisatorische Kraft zu geben, damit sich die Rebellion in projektuelle Intervention in Richtung des generalisierten Aufstands verwandelt, damit man vom individuellen Aufstand aus, als erster und notwendiger Schritt, weiter geht.

Dass vielen Gefährten dieser zweite Moment nicht liegt, ist eine äusserst offensichtliche Tatsache. Weshalb sie, von der Tatsache, sich selber jeglicher Anstrengung in diese Richtung fremd zu fühlen, zu einer Unterbewertung des Problems, oder schlimmer noch, zu einer Verachtung gegenüber allen anderen Gefährten übergehen, die dem organisatorischen Problem Aufmerksamkeit und Anstrengungen widmen.

Dieses Buch versucht, einige essenzielle Grundbegriffe zu liefern, damit der organisatorische Aspekt des insurrektionalistischen Anarchismus, auf vertiefte Weise, betrachtet werden möge. Insbesondere untersuche ich das Problem der Affinität, und somit der Affinitätsgruppen, der Informalität, und somit der informellen Organisation, sowie der Selbstorganisation der Kämpfe, und somit der Basiskerne und der Koordinationen zwischen diesen aus Anarchisten und Nicht-Anarchisten bestehenden Kernen mit den aus Anarchisten bestehenden Affinitätsgruppen durch die informelle Organisation.

Wie man sehen kann, hat das Argument ziemlich schwierige methodologische Charakteristiken. Es verlangt also die Zugänglichkeit von einigen Konzepten, die aufgrund ihrer gemeinläufigen Bedeutung oft entstellt sind, die mit der Bedeutung, die sie in einer insurrektionalistischen Organisationstheorie annehmen, nicht immer kohärent ist, und es erfordert vor allem ein bisschen kritische Aufmerksamkeit, das heisst, dass wir uns von den Vorurteilen befreien, die manchmal unsere Sicht begrenzen, ohne dass wir es merken.

Diese Einleitung, auf den nachfolgenden Seiten, wird schematischer sein, was diese Konzepte betrifft, der Text [des Buches] wird artikulierter, aber vielleicht schwieriger zu folgen sein, wenn man sich nicht zuerst diese Schlüsselkonzepte aneignet.

Eine anarchistische Gruppe kann auch zwischen völlig Unbekannten gebildet werden. Es ist mir oft geschehen, dass ich, in Italien und in anderen Ländern, den Sitz von anarchistischen Gruppen betrat, und praktisch niemanden kannte. Die blosse Präsenz an einem bestimmten Ort, die Haltung, die Art und Weise, zu sprechen und sich zu geben, die Diskussion, die persönlichen Deklarationen, die mehr oder weniger durchtränkt sind von den ideologischen Grundsatzentscheidungen des orthodoxesten Anarchismus, sorgen dafür, dass ein Anarchist sich, innerhalb von kurzer Zeit, zuhause fühlt und auf beste Weise und mit gegenseitiger Genugtuung mit den anwesenden Gefährten kommuniziert.

Es ist nicht meine Absicht, hier über die Art und Weise zu sprechen, wie eine anarchistische Gruppe organisiert werden kann. Es gibt viele Art und Weisen und jeder wählt sich seine Gefährten so aus, wie er es für am besten hält. Aber es gibt eine besondere Art und Weise, eine anarchistische Gruppe zu bilden, und das ist jene, die vor allem anderen, aber nicht ausschliesslich, das versteht sich von selbst, die wirkliche oder vermutete Affinität unter den Beteiligten berücksichtigt. Nun, diese Affinität ist ein Gut, das man in keiner Prinzipienerklärung, in keinem apriorischen Programm, in keiner Beteiligung an den spezifischen Kämpfen, in keinem Nachweis von “Militanz” finden kann, wie weit dieser auch zurückreichen mag. Die Affinität ist ein Gut, das man durch die gegenseitige Kenntnis erlangt. Dies ist der Grund, weshalb es Fälle gibt, in denen man vermutet, mit jemandem affin zu sein, um dann zu entdecken, dass man es gar nicht ist, und umgekehrt. Eine Affinitätsgruppe ist deshalb ein Schmelztiegel, worin die Affinitätsbeziehungen reifen und sich festigen.

Doch, da die Perfektion Angelegenheit der Engel und nicht der menschlichen Wesen ist, muss auch die Affinität mit Verstandesschärfe in Betracht genommen werden, und nicht stupide als das Allheilmittel für all unsere Schwächen akzeptiert werden. Ich kann nur entdecken, dass ich mit jemandem affin bin, wenn ich gegenüber diesem Jemand mich selber riskiere, das heisst, wenn ich mich enthülle, alle Verstellungen ablege, die mich normalerweise wie eine zweite Haut beschützen, die härter und unempfindlicher als die physische ist. Und diese Enthüllung darf nicht im Geschwätz stattfinden, indem ich von mir erzähle, in Erwartung, das Geschwätz des Anderen zu registrieren, sondern muss in den Dingen, die es gemeinsam zu tun gilt, in der Aktion stattfinden. Es gibt kleine Signale, die wir beim Handeln oft nicht kontrollieren, die viel bedeutsamer sind als die Worte, die wir beim Reden besser kontrollieren. Und es ist die Gesamtheit von diesem gegenseitigen Austausch, woraus sich die Bedingungen entwickeln, die zur gegenseitigen Kenntnis notwendig sind.

Wenn die gesamte Aktivität der Gruppe nicht auf das Tun um des Tuns willen ausgerichtet ist, auf das Ziel, quantitativ anzuwachsen, auf das Ziel, hundert zu werden, während man gestern bloss zu zehnt war, wenn dieses numerische Kalkül im Hintergrund bleibt, während das wesentliche Ziel jenes qualitative wird und bleibt, die anderen Gefährten zu fühlen, sie vereint und an der eigenen Spannung zur Aktion, dem eigenen Verlangen, die Welt zu verändern, beteiligt zu spüren, wenn dies geschieht, dann haben wir eine Affinitätsgruppe vor uns. Anderenfalls ist die Suche nach Affinität, ein weiteres Mal, die Suche nach einer Schulter, woran man sich anlehnen kann, um die Tränen zu vergiessen, deren Dringlichkeit wir alle verspüren.

Die Bildung von einer Affinitätsgruppe ist also nicht etwas, das ausschliesslich an theoretische Diskussionen gebunden ist, sondern ergiesst sich hauptsächlich in der praktischen Aktivität der Gruppe, in den Entscheidungen, die sie trifft, um in die Realität, in die sozialen Kämpfe zu intervenieren, denn diese Entscheidungen und diese Kämpfe sind es, wodurch jeder einzelne Beteiligte die Kenntnis mit allen anderen Gefährten vertiefen kann, und in das, in diesen vielseitigen und komplexen Prozess, auch die theoretische Vertiefung einbringen kann.

Wenn die Affinität also einerseits gegenseitige Kenntnis ist, so ist sie andererseits Kenntnis in der Aktion, in der Praxis, in der Realisierung der eigenen Ideen. Der Blick zurück, den ich meinen Gefährten erlaube, damit sie sehen, wer ich bin, wird somit in dem Blick nach vorne wieder aufgesogen, den alle zusammen, ich und sie, in die Zukunft werfen, wenn wir zusammen ein Projekt aufbauen, also entscheiden, in die Realität der Kämpfe zu intervenieren, und versuchen, zu erbeverstehen, wie und in welche Richtung wir intervenieren können. Diese beiden Momente, derjenige nach hinten, der in dem Moment der, sagen wir, individuellen Kenntnis besteht, und derjenige nach vorne, der projektuelle Moment, der in der, sagen wir, Gruppenkenntnis besteht, schweissen sich zusammen und bilden die Affinität der Gruppe selbst, während sie es gestatten, dass diese letztere in jeglicher Hinsicht als eine “Affinitätsgruppe” betrachtet werden kann.

Die Bedingung, die man auf diese Weise erhält, ist kein ein für alle Male festgelegtes Gut. Sie bewegt sich, entwickelt sich, bildet sich zurück, verändert sich im Verlauf der Kämpfe und erhält, innerhalb der Kämpfe, Nahrung, um sich theoretisch und praktisch zu verändern. Es gibt keine untrennbare Einheit, keine Entscheidung von Oben, keinen Glauben, worauf man schwören kann, keine Zehn Gebote, worauf man sich in den Momenten von Zweifel und Angst verlassen kann. Alles muss im Innern der Gruppe und im Verlauf der Kämpfe diskutiert werden, alles muss von Grund auf neu betrachtet werden, auch wenn es scheint, dass es unerschütterliche Punkte gibt, die auf ewig garantiert sind.

Die Ausarbeitung von einem Interventionsprojekt bleibt gemeinsames Erbe der Affinitätsgruppe, da eben dieses der geeignetste Ort für das Studium und die Vertiefung der Bedingungen ist, worin man sich entscheidet zu wirken. So hat die Affinitätsgruppe, scheinbar, verglichen mit der Gruppe, die einer Synthesenorganisation angehört, eine reduziertere Auffassung der eigenen Interventionsmöglichkeiten. Aber die Breite der Interessen einer anarchistischen Synthesenstruktur ist nur scheinbar. Denn im Bereich der Synthesenorganisation erhält die Gruppe im Kongressmoment eine Zuweisung, und auch wenn sie frei bleibt, sich für alle Probleme zu interessieren, die eine in Klassen geteilte Gesellschaft charakterisieren, so wirkt sie, im Wesentlichen, innerhalb der Zuweisung der Kongressbestimmung. Zudem, da sie an die programmatischen Prinzipien gebunden ist, die ein für alle Mal akzeptiert wurden, liegt es ihr fern, sich anders entscheiden zu können, und da sie es nicht tun kann, tut sie es auch nicht, und da sie es nicht tut, endet sie darin, sich an die starren Grenzen anzupassen, die von der Organisation per Kongress festgelegt wurden, und die aus notwendiger und unvermeidlicher Bedingung vor allem vorsehen, die Organisation selbst zu schützen, das heisst, die Macht so wenig wie möglich zu “stören”, um es zu vermeiden, “verbannt” zu werden. All diese Grenzen werden von der Affinitätsgruppe vermieden, einige mühelos, andere einzig mit dem Mut der Entscheidungen der Gefährten, die ihr angehören. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass auch dieser Typ von Struktur nicht den Gefährten Mut geben kann, die ihn nicht selber besitzen, nicht Angriffsentscheide suggerieren kann, wenn nicht in jedem von ihnen der Geist des Rebellen vorhanden ist, und nicht agieren kann, wenn alle sich entscheiden, bloss an das nachmittägliche Geschwätz zu denken.

Wurden die Probleme der Realität vertieft, die unerlässlichen Dokumente gefunden und die Analysen formuliert, entscheidet sich die Affinitätsgruppe, die Initiative zu ergreifen. Dies ist eine der fundamentalen Charakteristiken von diesem Typ von anarchistischer Struktur. Sie wartet nicht auf das Eintreffen der Probleme, wie eine Spinne inmitten ihres Netzes, sie macht sich auf, sie zu suchen, drängt sie auf eine Lösung zu, welche, einmal in Aussicht gestellt, natürlich von der Ausgeschlossenenrealität akzeptiert werden muss, die direkt den negativen Konsequenzen des Problems unterzogen wird. Aber um einen projektuellen Vorschlag an einen sozialen Kontext machen zu können, der einen besonderen Angriff der Macht, einen spezifischen eingegrenzten Angriff erleidet, der in einer oder mehreren repressiven Quellen und in einem bestimmten Territorium ausmachbar ist, muss man physisch, auf diesem Territorium, inmitten der Ausgeschlossenen präsent sein und eine vertiefte Kenntnis der Probleme haben, welche die laufende repressive Tatsache charakterisieren.

Die Affinitätsgruppe endet also darin, sich stets nach einer lokalisierten Intervention auszurichten, um gemeinsam mit den Leuten einem spezifischen Problem entgegenzutreten, während sie all jene Bedingungen – phsychologische und praktische, individuelle und kollektive, von theoretischer Vertiefung und Verfügbarkeit von Mitteln – kreiert, damit dieses Problem mit den methodischen Charakteristiken angegangen wird, die jene des Insurrektionalismus sind: Selbstorganisation, permanente Konflikthaltung, Angriff.

Eine einzelne Affinitätsgruppe hat nicht immer die praktische und theoretische Kapazität, um eine derartige Intervention zu erreichen. Der Grad des Problems, die Komplexität der Intervention, der Umfang des Territoriums, die Abstufung der einzusetzenden Mittel beim Verbreiten des projektuellen Modells, das in Zusammenwirkung mit den Ideen und den Bedürfnissen der ansässigen Leute vorgeschlagen wird, machen häufig, zumindest gemäss dem, was die (wenigen und oft widersprüchlichen) Erfahrungen gezeigt haben, den Zusammenschluss von breiteren Kräften nötig. Hier zeigt sich also die Notwendigkeit, konstante Verbindungen mit anderen Affinitätsgruppen aufrechtzuerhalten, zu dem Zweck, eine breitere Intervention vorzusehen, um die Anzahl der Gefährten, die Verfügbarkeit der Mittel und die Klarheit der Ideen an die Komplexität und die Dimension des Problems anzupassen, das es anzugehen gilt.

So entsteht die informelle Organisation.

Mehrere anarchistische Affinitätsgruppen schliessen sich zusammen und rufen eine informelle Organisation ins Leben, deren Zweck das Problem ist, das die Intervention von einer einzelnen Affinitätsgruppe unzureichend machte. Natürlich müssen alle an der informellen Organisation beteiligten Gruppen die Intervention in ihren groben Zügen teilen, um sich dann sowohl an den praktischen Aktionen wie an den theoretischen Ausarbeitungen zu beteiligen.

In Praxis passiert es oft, dass Affinitätsgruppen informelle Beziehungen untereinander haben, welche auf Dauer darin enden, konstant zu werden, das heisst, sich in periodischen Versammlungen zu verfestigen, die vorbereitend für spezifische Kämpfe oder – besser noch – Treffen sind, die eigens im Verlauf von einigen Kämpfen gehalten werden. Dies erleichtert die Zirkulation der Informationen bezüglich der einzelnen laufenden Interventionen, der sich in Ausarbeitung befindlichen Projekte, der aus irgendeinem Teil der Welt der Ausgeschlossenen kommenden Anregungen.

Die “Funktionsweise” einer informellen Organisation ist sehr simpel. Es gibt keine Namen, die sie kennzeichnen, da es keine Ziele von quantitativem Wachstum gibt. Es gibt keine fixen Strukturen (abgesehen von den einzelnen Affinitätsgruppen, von welchen jede vollkommen autonom ihre Arbeit macht), der Begriff “informell” würde ansonsten keinen Sinn mehr haben. Es gibt keine “konstitutiven” Momente, es gibt keine Kongresse, sondern schlicht periodische Versammlungen (die bevorzugt im Verlauf der Kämpfe selbst zu realisieren sind), es gibt keine Programme, sondern nur das gemeinsame der aufständischen Kämpfe und der Methodologie, die sie auszeichnet: die Selbstorganisation, die permanente Konflikthaltung, der Angriff.

Im Positiven ist das Ziel der informellen Organisation jenes, das ihr von den einzelnen Affinitätsgruppen übertragen wurde, die sie bilden. In der Regel, in den wenigen Erfahrungen, die gemacht wurden, handelt es sich um ein spezifisches Problem, zum Beispiel die Zerstörung der Raketenstützpunkt von Comiso in den Jahren 1982-1983, aber es könnte sich auch um eine Reihe von Interventionen handeln, wozu sich die informelle Organisation so aufgliedert, dass sie den einzelnen Gruppen in den verschiedenen Situationen eine Interventionsmöglichkeit liefert, indem sie sich beispielsweise in den Engagements abwechseln, wenn es darum geht, an einem bestimmten Ort auf lange Zeit präsent zu sein (in Comiso blieben die präsenten Gruppen für gute zwei Jahre vor Ort). Ein anderes Ziel könnte darin bestehen, Mittel – analytische und praktische, von Recherche aber auch von finanzieller Unterstützung – zur Verfügung zu stellen, welche die einzelne Gruppe nicht besitzen könnte.

Noch immer im Positiven besteht die primäre Funktion der informellen Organisation darin, die Kenntnis der verschiedenen Affinitätsgruppen und der Gefährten zu gestatten, die sie zusammensetzen. Es handelt sich, wenn man gut darüber nachdenkt, um einen anderen Grad von Suche nach Affinität. Dieses Mal, in den Grenzen, die von dem zu erreichenden Ziel gewährt werden, geschieht die Suche nach Affinität, die vonseiten des Projektes intensiviert wird, aber die Vertiefung der einzelnen individuellen Kenntnis nicht ausschliesst, auf der Ebene von mehreren Gruppen. Daraus ergibt sich, dass auch die informelle Organisation eine Affinitätsstruktur ist, da sie im Grunde auf der Gesamtheit der Affinitätsgruppen beruht, die sie zusammensetzen.

Diese Betrachtungen, die wir nun seit fast fünfzehn Jahren auf mehr oder weniger artikulierte Weise machen, hätten allen interessierten Gefährten die Natur der informellen Organisation beizeiten verständlich machen sollen. Es scheint nicht, dass dem so ist. Das ernsthafteste der Missverständnisse leitet sich, meiner Ansicht nach, aus dem – in einigen von uns latenten – Verlangen ab, die Muskeln zu zeigen, sich eine starke organisatorische Struktur zu geben, weil es kein anderes Mittel gäbe, um eine Macht zu bekämpfen, die ihrerseits muskulös und stark ist. Die erste Charakteristik einer starken Struktur, gemäss diesen Gefährten, müsste (auf mehr oder weniger klar Weise) spezifisch und robust, zeitlich stabil und gut sichtbar sein, zu dem Zweck, quasi ein Leuchtturm im Nebel der Kämpfe der Ausgeschlossenen darzustellen, ein Leuchtturm, eine Führung, ein Referenzpunkt. O Weh uns! Wir sind nicht dieser Ansicht. Die gesamte ökonomische und soziale Analyse des postindustriellen Kapitalismus gibt zu verstehen, wie die Macht aus einer solchen Struktur, stark und mit blossem Auge sichtbar, einen einzigen Happen machen würde. Das Verschwinden von einer Klassenzentralität (oder zumindest von dem, was in der Vergangenheit für eine Zentralität gehalten wurde) macht einen Angriff, der von starren, gut sichtbaren und deutlich gegliederten Strukturen geführt wird, impraktikabel. Für den Fall, dass diese Strukturen nicht auf den ersten Schlag zerstört werden, würden sie sicherlich mit Aufgaben zur Rekuperation und Rezyklierung der unnachgiebigsten Elemente in den Bereich der Macht kooptiert. Aber was diesen Punkt betrifft, verweisen wir auf die Lektüre der hier [in dem Buch Anarchismo insurrezionalista] präsentierten Texte, die gewiss viel überzeugender sind.

Solange die Affinitätsgruppe in ihrem Innern verschlossen bleibt, als Gesamtheit von Gefährten, die sich Regeln geben und sie respektieren, und mit Verschlossen-Bleiben meine ich hier nicht nur die Tatsache, seinen Sitz nicht zu verlassen, während man sich auf die üblichen Diskussionen unter Eingeweihten beschränkt, sondern auch die Tatsache, mit opportunen Deklarationen und Dokumenten auf die verschiedenen von der Macht vorgeschlagenen repressiven Termine zu antworten, solange die Dinge auf dieser Ebene bleiben, unterscheidet sich die Affinitätsstruktur von jeder beliebigen anderen anarchistischen Gruppe nur in den äusserlichen Aspekten, in den Worten, in den “politischen” Entscheidungen, in der Art und Weise, die verschiedenen Antworten auszulegen, die es auf die Anmassungen der Macht zu geben gilt, unser Leben und das Leben aller Ausgeschlossenen zu regulieren.

Der tiefe Sinn, das wesentliche Ziel der Tatsache, dass sie eine “andere” Struktur ist, das heisst, auf organisatorischen Entscheidungen beruht, die sich von allen anderen anarchistischen Gruppen unterscheiden, nämlich eben auf der Affinität, wird erst im Aufbau von einem spezifischen Kampfprojekt wirksam. Und das Element, welches dieses Projekt charakterisiert, jenseits der Worte oder der Beweggründe, die es analytisch mehr oder weniger vertieft und praktisch mehr oder weniger wirkungsvoll machen, wird von der Präsenz der Ausgeschlossenen, also der Leute, kurzum der – zahlenmässig mehr oder weniger konsistenten – Massen gegeben, die den repressiven Auswirkungen vonseiten der Macht unterzogen werden, gegen die sich dieses Projekt richtet, indem es auf die insurrektionalistische Methode zurückgreift.

Die Beteiligung der Massen ist also das grundlegende Element des aufständischen Projekts und, da dieses letztere von der Bedingung von Affinität der einzelnen anarchistischen Gruppen ausgeht, die sich daran beteiligen, ist sie auch grundlegendes Element dieser Affinität selbst, welche eine ärmliche Elitekameraderie bleiben würde, falls sie auf die gegenseitige Suche nach einer vertiefteren persönlichen Kenntnis unter Gefährten beschränkt bleibt.

Es wäre jedoch ein Widersinn, zu denken, die Leute zu Anarchisten werden zu lassen, indem man vorschlägt, in unsere Gruppen einzutreten, zu dem Zweck, den Kampf auf anarchistische Weise anzugehen. Das wäre nicht nur ein Widersinn, sondern eine schreckliche ideologische Verzerrung, und es würde die ganze Bedeutung der Affinitätsgruppen und der eventuellen informellen Organisation über den Haufen werfen, welche entstanden sind, um dem repressiven Angriff gegenüberzutreten, dem in einem gewissen Moment, in einem bestimmten Gebiet, ein mehr oder weniger konsistenter Teil der Ausgeschlossenen vonseiten der Macht unterzogen wird.

Da jedoch organisatorische Strukturen kreiert werden müssen, die fähig sind, die Ausgeschlossenen zu gruppieren, um mit den Angriffen gegen die Repression zu beginnen, zeigt sich die Notwendigkeit, die autonomen Basiskerne ins Leben zu rufen, die selbstverständlich jeden beliebigen anderen Namen annehmen können, der auf das Konzept von Selbstorganisation verweist.

Hiermit sind wir also beim zentralen Punkt des aufständischen Projektes angelangt: die Bildung der autonomen Basiskerne (der Bequemlichkeits halber akzeptieren wir hier diesen Begriff).

Ihre wesentliche Charakteristik, unmittelbar sichtbar und verständlich, besteht darin, dass ihnen Anarchisten und Nicht-Anarchisten angehören.

Aber die Punkte, die schwieriger zu verstehen sind, und die sich bei den äusserst wenigen Gelegenheiten von praktischen Experimentierungen als Quell von nicht wenigen Missverständnissen erwiesen haben, sind andere. Zuallererst die Tatsache, dass sie Strukturen von quantitativem Typ sind. Wenn sie Strukturen von diesem Typ sind, und in der Tat sind sie das, muss klargestellt werden, dass sie eine besondere Charakteristik haben. Sie sind regelrechte Referenzpunkte, nicht fixe Orte, wo die Leute gezählt werden und wo es somit erforderlich ist, all jene Prozeduren in Gang zu setzen, die das aggregative Fortbestehen auf Dauer möglich machen (Ausstellen von Mitgliederkarten, Überweisung eines Beteiligungsbeitrags, Bereitstellung von Diensten, usw.). Da die Basiskerne einzig den Kampf zum Ziel haben, funktionieren sie wie eine regelrechte Lunge in ihrer Atmungsfunktion, sie schwellen in dem Moment an, wo der Kampf intensiver wird, und schrumpfen zusammen, wenn der Kampf nachlässt, um in dem Moment der nächsten Konfrontation wieder anzuschwellen. An den toten Punkten, zwischen einem Engagement und dem anderen – und unter Engagement wird hier jeglicher Kampfmoment verstanden, auch das Verteilen eines schlichten Flugblatts, die Beteiligung an einer Kundgebung, aber auch die Besetzung von einem Gebäude oder die Sabotage von einem Instrument der Macht – bleibt der Kern als zonale Referenz, als Zeichen einer informellen organisatorischen Präsenz bestehen.

Zu denken, dass ein stabiles quantitatives Wachstum der autonomen Basiskerne möglich ist, bedeutet, sie in para-gewerkschaftliche Organismen, also in so etwas ähnliches wie die COBAS [Basisgewerkschaften in Italien] zu verwandeln, die die Rechte der Arbeiter der verschiedenen Produktionssektoren verteidigen, während sie sich einen breiten Fächer von defensiven und fordernden Interventionen zu Gunsten ihrer Repräsentierten vornehmen, was zur Folge hat, dass, je höher die Anzahl der Delegationen ist, desto stärker die Stimme des Organismus ist, der die Forderung stellt. Der autonome Basiskern hat nichts von all dem. Er schlägt nicht einen fordernden Kampf mit der Methode der Gesuche und der Delegation vor, er schlägt nicht einen Protest in Bezug auf generische Ziele vor, die von der Verteidigung des Arbeitsplatzes, der Erhöhung des Lohnes, bis zum Gesundheitsschutz in den Fabriken, usw. reichen kann. Der Basiskern entsteht und stirbt mit seinem einzigen Ziel, das in dem Moment bestimmt wurde, als man den Kampf begann, ein Ziel, dass an und für sich auch von fordernder Natur sein kann, aber nicht mit der repräsentativen Methode der Delegation gesucht wird, sondern mit der direkten Methode des unmittelbaren Kampfes, des permanenten und unvorangekündigten Angriffs, der Zurückweisung von jeglicher politischen Kraft, die beansprucht, irgendwen oder irgendwas zu repräsentieren.

Die Mitglieder der Basiskerne können sich also nicht auf legitime Weise eine mehrseitige Unterstützung erwarten, die ein breites Band von ihren Bedürfnissen abdeckt, sie müssen verstehen, dass es sich nicht um eine paragewerkschatliche Unterstützung handelt, sondern um ein Kampfinstrument gegen ein bestimmtes Ziel, und das, als Instrument, nur gültig bleibt, wenn es die anfängliche Entscheidung unverändert beibehält, nur von den aufständischen Kampfmethoden, wovon wir sprachen, Gebrauch zu machen. Die Beteiligung an den Kernen ist also völlig spontan, da sie nicht durch was auch immer für Vorteile angeregt, oder angeraten werden kann, die nicht jene spezifischen und ausschliesslichen von einer grösseren Kraft und Organisation im Erreichen des Angriffsziels sind, das man sich, alle zusammen, gesetzt hat. Es ist also mehr denn logisch, sich zu erwarten, dass diese Organismen nie eine hohe, und geschweige denn eine stabile quantitative Zusammensetzung erreichen werden. Wenn man sich auf den Kampf vorbereitet, sind diejenigen, die das zu erreichende Ziel sehen, die es teilen und, zudem, bereit sind, sich selber zu riskieren, stets wenige. Wenn der Kampf beginnt, und man die ersten Resultate erhält, kommt auch in den Zögernden und den Schwachen Lust auf, sich zu beteiligen, und so sieht man, wie der Kern anschwillt, um dann das Verschwinden dieser Beteiligten der letzten Stunde zu sehen, eine an sich völlig physiologische Tatsache, die nicht negativ beeindrucken, oder ein negatives Urteil über dieses spezifische Instrument von Massenorganisation bestärken darf.

Ein anderer Punkt von unklarem Verständnis ist die begrenzte Lebensdauer des autonomen Basiskerns, begrenzt auf die Erreichung (oder auf die gemeinsame Einigung über die Unmöglichkeit einer Erreichung) des Ziels, das man sich setzte. Viele fragen sich: wenn die Kerne “auch” als Gruppierungspunkte funktionieren, weshalb sie nicht für einen anderen möglichen zukünftigen Gebrauch am Leben lassen, der anders als der stattfindende ist? Die Antwort ist ein weiteres Mal an das Konzept von “Informalität” gebunden. Jede Struktur, die zeitlich über das Ziel hinaus fortbesteht, das sie entstehen sah, wenn sie zu ihrer wesentlichen Existenzbedingung dieses Ziel und nicht eine generische breitgefächerte Verteidigung von denjenigen hatte, die sich daran beteiligen, versteift früher oder später in einer stabilen Struktur, die das anfängliche Ziel in das neue, und scheinbar legitime, eines quantitativen Wachstums, einer Stärkung umkehrt, um besser eine Vielfältigkeit von Zielen zu erreichen, die alle gleichsam interessant sind, und die nicht ausbleiben werden, sich am nebelhaften Horizont der Ausgeschlossenen zu präsentieren. Parallel zur Verwurzelung der informellen Struktur in einer neuen, stabilen Form, werden sich die passenden Individuen finden, die diese Struktur verwalten, stets dieselben, diejenigen, die fähiger sind, diejenigen, die mehr Zeit zur Verfügung haben, kurzum, der Kreis wird sich früher oder später um eine Struktur schliessen, die angeblich anarchistisch und auch revolutionär ist, welche somit jedoch ihr eigentliches Ziel enthüllt hat: das eigene Überleben. Auch die verdünnteste Form von Macht, wie es eben diejenige ist, die wir in der „Stabilität“ von einer organisatorischen Struktur sich bilden sehen, und sei sie auch anarchistisch und revolutionär, wird sehr stark anziehen, natürlich alles Gefährten in gutem Glauben, alle danach verlangend, für das Wohl des Volkes zu sorgen, und von diesem Schritt, usw. usf.

Ein letztes organisatorisches Element, das hin und wieder unerlässlich werden kann, ist die „Koordination der Basiskerne“. Diese Struktur wird, während sie dieselben Charakteristiken von Informalität hat, von einigen Repräsentanten der Basiskerne gebildet, und meist ist es unerlässlich, dass sie mit Mitteln ausgestattet wird, die dem zu erreichenden Ziel angemessen sind. Wenn die einzelnen Kerne, angesichts ihrer „lungenhaften“ Funktion, auch hinsichtlich der Abwesenheit eines Sitzes, eines Ortes, wo man sich versammelt, eine Informalität haben können, da der Kern sich darauf einigen kann, direkt auf dem Platz zusammenzukommen, so kann das für die Koordination nicht geschehen, die ein offiziell geöffnetes Lokal benötigt, das, im Falle von einem Kampf, der sich zeitlich hinzieht, monatelang oder jahrelang, obschon eingegrenzt von der Spezifizität des Problems, das das Projekt erzeugt hat, zu dem Ort wird, an dem die verschiedenen Aktivitäten der Basiskerne koordiniert werden.

Die Präsenz der Affinitätsgruppen ist in der Koordination nicht direkt sichtbar, und dasselbe kann darüber gesagt werden, was die informelle Organisation betrifft. Natürlich sind alle anarchistischen Gefährten, die in dem Kampf engagiert sind, in den verschiedenen Basiskernen präsent, aber meist ist dies sicherlich nicht der beste Ort für die anarchistische Propaganda, verstanden im klassischen Sinne. Das, was innerhalb der Koordination, und der einzelnen Kerne, getan werden muss, vor allem anderen, ist eine analytische Klärung des grundlegenden Problems, des Ziels, das man erreichen will, dann eine Vertiefung der im Kampf einzusetzenden aufständischen Mittel. Die Aufgabe der Gefährten konkretisiert sich in der Beteiligung am Projekt und in der Vertiefung, gemeinsam mit allen Interessierten, von den zu gebrauchenden Mittel, von den einzusetzenden Methoden. Auch wenn die Sache in der vorliegenden Schematisierung einfach scheint, erweist sich in der Praxis als sehr kompliziert.

Die Funktion der „Koordination der autonomen Basiskerne“ besteht also in der Verbindung der Kämpfe. Hier wird einzig ein Problem vorgeschlagen (sehr schwer verdaulich für die Anarchisten, aber sehr simpel für jemanden, der kein Anarchist ist): die Notwendigkeit im Falle von einem Massenangriff gegen Strukturen der Macht, vor dem Angriff selbst die einzelnen Aufgaben zu verteilen, das heisst, sich, in den minimalen Details, darüber zu einigen, was getan werden muss. Viele stellen sich diese Kampfgelegenheiten als ein Fest der Spontaneität vor: das Ziel ist hier, vor aller Augen, es genügt, hinzugehen, die Kräfte, die es beschützen, aus dem Weg zu fegen, und es zu zerstören. Ich stelle hier die Sache in diese Begriffe, auch wenn ich weiss, dass viele darin hundert verschiedene Nuancierungen sehen werden, aber die Substanz ändert sich nicht. In diesen Fällen haben entweder alle Beteiligten, auf präzise Weise, im Kopf, was zu tun ist, da es sich um einen Kampf handelt, der sich wohl oder übel auf einem Territorium abspielt und einen bewaffneten Widerstand gegenüber haben wird, den es zu überwinden gilt, oder aber, wenn nur einige wissen, was zu tun ist, und der Rest nicht, wird die Verwirrung, die dabei herauskommt, dieselbe sein, wenn nicht schlimmer, als in dem Falle, wo niemand weiss, was zu tun ist.

Es braucht also einen Plan. Es hat Fälle gegeben, in denen es einen bewaffneten militärischen Plan brauchte, auch nur um ein Flugblatt zu verteilen (zum Beispiel im Verlauf des Aufstands von Reggio Calabria [1970-1971]). Aber dieser Plan, kann er wirklich allen zur Verfügung gestellt werden, und sei es auch einige Tage vor dem Angriff? Ich denke nicht. Es gibt Vorsichtsgründe, die sagen nein. In anderer Hinsicht müssen die Details des Angriffsplans allen Beteiligten zur Verfügung gestellt werden. Daraus ist zu entnehmen, dass sich nicht alle beteiligen können, sondern nur diejenigen, die sich auf irgendeine Weise als bekannt erweisen, sei es aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den autonomen Basiskernen, oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Affinitätsgruppen, die sich durch die informelle Organisation darin fanden, Teil der Koordination zu sein. Dies, um jene Infiltrationen zu vermeiden, die in diesen Fällen mehr als wahrscheinlich sind. Die nicht bekannten Personen müssten von anderen abgesichert werden, die bekannt sind. Diese Tatsache kann unangenehm sein, aber sie ist nicht vermeidbar.

Das Problem verkompliziert sich, wenn das laufende Projekt, und sei es auch nur in seinen groben Linien, vielen Gefährten bekannt ist, welche daran interessiert sein können, sich an einer von diesen Angriffsaktionen zu beteiligen, worüber wir es haben. In diesem Fall könnte der Zustrom beträchtlich sein (im Falle von Comiso, während der Tage des Besetzungsversuches, erreichte man eine Anwesenheit von zirka dreihundert Gefährten, die aus ganz Italien und auch aus dem Ausland kamen), und die Notwendigkeit, die Anwesenheit von Infiltranten zu vermeiden, könnte viel schwerwiegender sein. Die Gefährten, die in dem letzten Moment ankamen, könnten sich somit als Aussenstehende der stattfindenden Organisation der Aktion vorfinden und es nicht schaffen, zu verstehen, was am passieren ist. Genauso enden all diejenigen darin, sich faktisch als Aussenstehende vorzufinden, die beschliessen, die obengenannte Überprüfung nicht zu akzeptieren.

Und jetzt zwei abschliessende Fragen:

Wieso halten wir die aufständische Methodologie und das aufständische Projekt für Mittel, die der revolutionären Konfrontation heute angemessener sind?

Was erwarten wir uns, kann sich aus dem Einsatz von aufständischen Mitteln in einer Situation ergeben, die nicht jene eines stattfindenden Aufstands ist?

Was die erste Frage betrifft, so gibt die Analyse der sozialen und ökonomischen Formation [ausführlich behandelt in dem Buch, wozu dieser Text die Einleitung war] heute zu verstehen, wie diese Mittel die geeigneteren sind, da sie jeden Kampf, der ausgehend von Synthesenstrukturen geführt wird, die, im Kleinen wie im Grossen, alle Fehler der parteilichen Formen der Vergangenheit reproduzieren, entweder unmöglich, oder nur der Restrukturierung der Herrschaft nützlich macht.

Auf die zweite Frage kann geantwortet werden, indem gesagt wird, dass man nicht weiss, was die apriorischen Bedingungen sind, welche die Entwicklung eines Aufstands ermöglichen. Jede Gelegenheit könnte die gute sein, selbst wenn es sich um ein kleines, scheinbar vernachlässigbares Experiment handelt. Aber da ist mehr, ein Projekt von aufständischem Kampf zu entwickeln, es ausgehend von einem spezifischen Problem zu entwickeln, das als repressive Tatsache und als Beeinträchtigung von beträchtlichen Massen von Ausgeschlossenen dabei ist, tiefgreifend zu wirken, ist nicht ein schlichtes „Experiment“, es ist laufender Aufstand, ohne damit etwas aufbauschen zu wollen, was klein beginnt und quasi sicherlich darin endet, klein zu bleiben. Das, was zählt, ist die Methode, und die Anarchisten haben, in diese Richtung, noch einen weiten Weg zu begehen, ansonsten würden sie nicht unvorbereitet vor den Verabredungen mit den vielen Aufständen eines ganzen Volkes dastehen, die sich ereignet haben und die sich weiterhin ereignen werden.

Im Grunde ist dieses Buch ein Beitrag zum grossen Problem des „Was tun?“


Entnommen aus: Alfredo M. Bonanno: "Anarchismus und Aufstand", Edition Irreversibel in Zusammenarbeit mit Konterband Editionen, ohne Ort, August 2014, S. 161-188.
Original auf Italienisch, Einleitung zur ersten Ausgabe von Alfredo M. Bonanno, Anarchismo insurrezionalista, Edizioni Anarchismo, Juni 1999, Catania.