#title Entwicklungen der Demokratie #author Anonym #SORTauthors Dissonanz #SORTtopics Demokratie, Abstentionismus, Wahlen, Direkte Demokratie, #date 2015 #source Dissonanz. Anarchistische Zeitung, Nr. 11, Zürich, 30. September 2015 (dissonanz-a [ät] riseup.net) #lang de #pubdate 2016-06-14T16:48:18 Das technische Hindernis, das der direkten Demokratie entgegengehalten wurde, wurde durch die Technologie überwunden. Aber was würde eine Entwicklung der staatlichen Regierungstechnik in diese Richtung bedeuten? Die grundlegende Idee der Demokratie besteht darin, dass es das Volk sein muss, dass sich selber regiert, damit es wirklich frei sein kann. Sie entsteht aus dem Dilemma, die Autonomie des Einzelnen und die Autorität des Staates – zwei für uns absolut unversöhnliche Begriffe – zu vereinen. In ihrer idealen Form, also der direkten oder der Basisdemokratie, bedeutet das, dass jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft über jede einzelne Entscheidung seine Stimme abgeben kann. Auf diese Weise würden die Gesetze, welche das gesellschaftliche Zusammenleben regeln, den Einzelnen nicht von oben aufgezwungen, sondern durch sie selbst einstimmig in Versammlungen beschlossen, während sie sich dadurch moralisch verpflichtet fühlen, ihnen Folge zu leisten. In der Tat haben die heutigen Regierungen mit dieser ursprünglichen Idee sehr wenig zu tun, wenn sie überhaupt jemals Realisierung gefunden hat. Denn, im Grunde geht sie von der Voraussetzung aus, dass alle Teile einer Gesellschaft am Gemeinwohl interessiert sind, dass es also keine fundamentalen Interessenskonflikte, keine Klassenteilung gibt. In einem solchen Kontext wäre jedoch nicht zu verstehen, wozu dann eine staatliche Autorität, mit Gesetzen und entsprechenden exekutiven Zwangsorganen, nötig sein sollte. Tatsache ist, dass es in einer kapitalistischen Gesellschaft wie der unsrigen, in der ein Teil der Bevölkerung von der Ausbeutung des anderen lebt, diese gemeinsame Übereinkunft nicht geben kann, es sei denn unter Androhung und Ausübung der Gewalt vonseiten eines Staates. Denn welchen Grund hätte jemand, mit einem Arbeitgeber über sein Recht übereinzukommen, ihn auszubeuten, mit einem Eigentümer über sein Recht, ihm Miete abzuknöpfen, mit einem Beamten über sein Recht, ihn zu kontrollieren, wenn nicht, dass ihm andernfalls Gewalt und Strafe droht? Es handelt sich dabei um einen Konflikt, der in den Grundlagen der Gesellschaft verankert ist (Ausbeutung, Eigentum, Macht, etc.), und der, unserer Ansicht nach, nur durch eine revolutionäre Umwälzung dieser Grundlagen gelöst werden kann. Das Modell der Demokratie, und sei es auch einer direkten, in einem solchen Kontext, ist nicht nur absurd, sondern kann einzig dazu dienen, diesen Konflikt zu verwalten und zu befrieden, zugunsten von denjenigen, die von diesen Verhältnissen profitieren. Die repräsentative Demokratie Heute ist die meistverbreitete Regierungsform die repräsentative Demokratie, mit mehr oder weniger ausgeprägten partizipativen Aspekten, das heisst mit Referenden, der Möglichkeit von Volksinitiativen, etc., aber fundamental basierend auf den Mechanismen der Delegation und der Repräsentation. Das heisst, die Einzelnen beschliessen nicht selber über die Probleme, die sie betreffen, sondern wählen Vertreter, die dies für sie tun sollen – nicht auf Basis eines präzisen und eingegrenzten Mandats, das von den Delegierenden selbst kontrolliert wird, sondern auf Basis einer vagen politischen Vertretung, die den Delegierten weitreichende Entscheidungsmacht überträgt. Auf diese Weise verzichten die Einzelnen freiwillig auf ihre Autonomie, und somit auf ihre Freiheit, indem sie sich Gesetze aufzwingen lassen, über die sie niemals beschlossen haben. Eines der Hauptargumente, das gegen das Modell der direkten Demokratie vorgebracht wird, besteht darin, dass es technisch unmöglich sei, unter so vielen Menschen gemeinsam zu beschliessen. Nun, bei genauerer Betrachtung wird klar, dass dieses Problem nur besteht, weil von einem zentralisierten, staatlichen Modell ausgegangen wird, das seine Herrschaft über einem bestimmten Territorium aufzwingt, und nicht von einem dezentralisierten und föderativen Modell von freien Gemeinden, die ihre Angelegenheiten autonom beschliessen. Heute aber, mit der technologischen Entwicklung, ist dieses technische Hindernis de facto weggefallen, und selbst immens grosse zentralisierte Staaten könnten Abermillionen von Menschen simultan über die jeweiligen Beschlüsse befragen. Und in der Tat mangelt es nicht an jenen, die verfechten, mithilfe dieser Technologien das antike Ideal der direkten Demokratie realisieren zu können. Technologie und direkte Demokratie Aber handelt es sich dabei etwa um eine freiheitliche und dezentralisierende Tendenz zugunsten der Autonomie der Individuen, wie es die Verfechter von diesen technologischen Möglichkeiten verfechten, oder nicht vielmehr, im Gegenteil, um eine weitere Ausfeilung der Regierungstechnik des zentralisierten Staates? In der Tat könnten sich Modelle von elektronischer Wahlbeteiligung, wie jenes der sogenannten “Liquid Democracy”, sehr gut in die heutigen Ansprüche der kapitalistischen Verwaltung einfügen, die auf einem allumfassenden Sammeln, Vernetzen und Verwalten von Daten basiert, um permanent eine möglichst schnelle und flexible Anpassung des Systems zu ermöglichen. Zu jedem Zeitpunkt einen Überblick über die aktuelle Meinungslage in der Bevölkerung zu haben, kombiniert mit den immer grösseren Möglichkeiten, diese Meinungen durch die Masseninformationsmittel zu beeinflussen und zu steuern, wäre, tatsächlich, die perfekte Grundlage für eine totalitäre Demokratie. Schliesslich, auch wenn alle Einzelnen permanent über Beschlüsse und Gesetzestexte abstimmen könnten, bleibt es noch immer der Staat, der den Rahmen der möglichen Alternativen festlegt, welche, selbstverständlich, seine Grundlagen von Eigentum und Autorität niemals in Frage stellen können. Wahlabstentionismus und direkte Aktion Gesetze, die über unseren Köpfen und ohne unsere geringste Zustimmung getroffen wurden, haben für uns keine Gültigkeit. Im Gegenteil, wir sollten sie als Herrschaftsiunstrumente erkennen, um uns an die Akzeptierung unserer Ausbeutung zu binden. In einem Kontext von Klassenkonflikt ist, für uns, weder ein Dialog noch eine Übereinkunft mit den Herrschenden möglich. Die einzige Möglichkeit, unter diesen Verhältnissen unsere Autonomie zu bewahren, beginnt damit, sich den Wahlen und allen Aufrufen, sich an der staatlichen Verwaltung zu beteiligen, zu enthalten. Nicht, um sich damit zufriedenzugeben, sondern, im Gegenteil, um die Fragen, die uns selber betreffen, aus eigener Initiative und direkt anzugehen. Dazu können wir uns zusammenschliessen, um durch die autonome Aktion den nötigen Druck auf die politischen Entscheide auszuüben, und um unsere Kämpfe durch die direkte Aktion selber zu realisieren.