Emma Goldman

Die Masse

Wenn ich die Richtung, in der unsre Zeiten sich bewegen, mit einem Wort zusammenfassen soll, so sage ich: Quantität. Die Menge, der Geist der Masse herrscht allenthalben vor und zerstört die Qualität. All unser Leben -- Produktion, Politik und Erziehung — beruht auf der Quantität, auf der großen Zahl. Der Handwerker, der einst auf die Genauigkeit und Qualität seiner Arbeit stolz war, ist durch gedankenlose und an der Sache nicht interessierte Automaten ersetzt worden, die riesige Mengen von Gegenständen herstellen, die für sie selbst keinen Wert haben und der übrigen Menschheit oft genug von Schaden sind. So hat die Quantität, anstatt die Behaglichkeit und den Frieden des Lebens zu erhöhen, nur die Lasten der Menschen vermehrt.

In der Politik zählt nichts als die Quantität. Prinzipien, Ideale, Gerechtigkeit und Festigkeit sind völlig von der Menge hinweggespült worden. In dem Kampf um Herrschaft übertrumpfen die verschiedenen politischen Parteien einander mit ihren Tricks, Betrügereien, Schlauheiten und schäbigen Machinationen; sie dürfen getrost darauf rechnen, daß die Partei, die Erfolg hat, von der Mehrheit als Sieger bejubelt wird. Das ist der einzige Gott: der Erfolg. Auf welche Kosten, mit welch schrecklichen Schädigungen des Charakters kommt nicht in Betracht.

Oft wird in unsrer Zeit von allen Politikern, die Sozialisten einbegriffen, das Sprüchlein wiederholt, wir lebten im Zeitalter des Individualismus oder der Macht der Minorität. Diese Ansicht können nur solche hegen, die nicht unter die Oberfläche dringen. Haben nicht, sagt man, die wenigen allen Reichtum der Welt im Besitz? Sind sie nicht die Herren, die unbeschränkten Könige der Situation? Ihr Erfolg ist nicht dem Individualismus, sondern der Trägheit, der Erbärmlichkeit, der völligen Unterwerfung der Masse zu danken. Diese begehrt nichts anderes als beherrscht, geführt und gezwungen zu werden. Der Individualismus aber hatte zu keiner Zeit in der ganzen Menschengeschichte weniger Aussicht sich zu verwirklichen, weniger Gelegenheit sich in normaler, gesunder Weise zu behaupten.

Der individuelle Erzieher, der einem ernsten Ziele nachstrebt, der Künstler oder Schriftsteller mit originellen Ideen, der unabhängige Gelehrte oder Forscher, die unnachgiebigen Pioniere der sozialen Umgestaltung, alle werden sie täglich von Männern zur Seite gedrängt, deren Bildung und Schöpferkraft an Altersschwäche kranken.

Man braucht nur unsere Parks und öffentlichen Plätze anzusehen, um sich von der Häßlichkeit und Gewöhnlichkeit der Kunstfabrikate zu überzeugen. Die Denkmäler, die unsere Städte verunzieren, falsch in der Konzeption und barbarisch in der Ausführung, haben nicht mehr Ähnlichkeit mit wirklicher Kunst als der Götze eines Hottentottenstammes mit einem Michelangelo. Wahrlich, nur ein Mehrheitsgeschmack kann solch eine Verhöhnung der Kunst dulden. Aber das ist die einzige Art Kunst, die jetzt Erfolg hat. Der wahre Künstler, der sich herkömmlichen Anschauungen nicht beugt, der seine Originalität bekundet und dem Leben treu sein will, führt ein unbekanntes und geplagtes Dasein. Sein Werk kann eines Tages der bewunderte Götze der Menge werden, aber erst, wenn er sein Herzblut hingegeben hat; erst, wenn der Pfadfinder nicht mehr lebt und ein Haufe idealloser und unschöpferischer Gesellen das Erbe des Meisters zu Tode gehetzt hat.

Die unverzeihlichste Sünde in der Gesellschaft ist Unabhängigkeit des Denkens. Daß das in einem Lande, dessen Wahrzeichen die Demokratie ist, so schrecklich klar zu Tage tritt, ist für die überwältigende Macht der Mehrheit sehr bezeichnend.

Wendell Phillips sagte vor fünfzig Jahren: »In unserem Lande der völligen demokratischen Gleichheit ist die öffentliche Meinung nicht nur allmächtig, sie ist allgegenwärtig. Vor ihrer Tyrannei gibt es keine Zufluchtsstätte, vor ihrem Bereich gibt es kein Versteck, und das Resultat ist, daß, wenn einer die alte Laterne des Diogenes nimmt und unter die Menge geht, um einen Menschen zu suchen, er nicht einen einzigen Amerikaner findet, der nicht für seinen Ehrgeiz, seine soziale Existenz oder sein Geschäft von der guten Meinung und den Beschlüssen seiner Umgebung etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat, und wenn solcher Gewinn oder Verlust nur in seiner Einbildung leben sollte. Und die notwendige Folge ist, daß wir, anstatt eine Masse von Individuen zu sein, von denen jedes furchtlos seine eigene Überzeugung durchführt, daß wir als Nation in Vergleich mit andern Nationen eine Masse von Feiglingen sind. Mehr als jedes andere Volk haben wir gegenseitig vor einander Angst.« Es ist klar, daß wir uns von dem Zustand, den Wendell Phillips vor Augen gehabt hat, nicht eben weit entfernt haben...

Immer, in jeder Periode, waren die wenigen die Bannerträger einer großen Idee, die Vorkämpfer der Befreiung. Nicht so die Masse, deren Bleigewicht sie nicht zur Bewegung kommen läßt... Wie ist so etwas möglich, wenn Ideen, Kultur, Literatur, wenn das tiefste und feinste Leben der Seele unter dem eisernen Joch stöhnt? Die Mehrheit, diese kompakte, unbewegliche, dumpfe Masse... glaubt nach einem Jahrhundert des Kampfes, des Opfers, des unsäglichen Elends immer noch, der Strick, mit dem »der Mann mit den weißen Händen« (der Intellektuelle) gehängt worden sei, bringe Glück.

In dem amerikanischen Freiheitskampf war die Masse genau ebenso ein unbeweglicher Block. Noch bis zum heutigen Tage werden die Ideen von Jefferson, von Patrick Henry, von Thomas Paine von ihren Nachkommen verleugnet und verraten. Die wahren Beschirmer der Schwarzen sind eine Handvoll Kämpfer in Boston gewesen, Lloyd Garrison, Wendell Phillips, [Henry David] Thoreau, Margaret Fuller und Theodore Parker, deren große Tapferkeit und Hartnäckigkeit in dem düsteren Riesen John Brown ihren Gipfel fanden. Ihr unermüdlicher Eifer, ihre Beredsamkeit und Zähigkeit untergruben die starke Macht der Herren im Süden. Lincoln und seine Getreuen folgten erst, als die Abschaffung der Sklaverei eine praktische Notwendigkeit geworden war, die als solche von allen anerkannt wurde.

Vor etwa fünfzig Jahren erschien gleich einem Meteor am sozialen Horizont der Welt eine Idee, die so weitreichend, so revolutionär, so allumfassend war, daß sie allerwärts das Entsetzen in die Herzen der Tyrannen tragen mußte. Auf der anderen Seite war diese Idee für die Millionen eine Fackel der Freude, des Jubels, der Hoffnung. Die Pioniere kannten die Schwierigkeiten auf ihrem Weg, sie kannten den Widerstand, die Verfolgung, die Hindernisse, die sich ihnen entgegenstellen mußten, aber stolz und furchtlos schritten sie auf ihrem Weg weiter, immer weiter. Jetzt ist diese Idee ein populäres Schlagwort geworden. Fast jeder ist heutzutage ein Sozialist: der Reiche und ebenso der Arme, den er ausbeutet; die Vertreter von Gesetz und Autorität und ebenso die Unseligen, die vor ihre Schranken kommen; der Freidenker und ebenso der Verewiger religiösen Trugs; die Modedame und ebenso die heruntergekommene Dirne. Warum nicht? Jetzt, wo das, was vor fünfzig Jahren die Wahrheit war, zur Lüge geworden ist, jetzt, wo es all seine phantastische Jugend eingebüßt hat und seiner Kraft, seiner Stärke, seines revolutionären Ideals beraubt worden ist — warum nicht? Jetzt, da es nicht länger eine zauberisch schöne Vision ist, sondern ein »praktischer, durchführbarer Plan«, der vom Willen der Mehrheit abhängt, warum nicht? Mit der nämlichen politischen Schlauheit und Kaltblütigkeit wird die Masse tagtäglich gekitzelt und vollgestopft. Ihr Lob wird in allen Tonarten gesunden: die arme, die beschimpfte, die betrogene, die riesenhafte Mehrheit, — wenn sie nur uns folgen wollte! Wer hat diese Litanei nicht schon gehört? Wer kennt nicht diesen stehenden Refrain aller Politiker? Daß die Masse blutet, daß sie beraubt und ausgebeutet wird, weiß ich so gut wie unsere Stimmfänger. Aber ich behaupte, daß nicht die Handvoll Schmarotzer, sondern die Masse selbst für diesen furchtbaren Stand der Dinge verantwortlich ist. Sie hängt an ihren Herren; sie liebt die Peitsche; sie ist der erste, der »Kreuzige!« ruft, sowie sich eine Stimme der Empörung gegen die geheiligte Autorität des Kapitalismus oder einer anderen Institution erhebt. Wie lange könnten jedoch Autorität und Privateigentum Bestand haben, wenn nicht die Masse wäre, die sich willig zu Soldaten, Polizisten, Kerkermeistern und Henkern hergibt! Die Demagogen des Sozialismus wissen das so gut wie ich, aber sie bleiben bei ihren Märchen von den Tugenden der Mehrheit, weil sie gar nichts anderes im Sinne haben, als die Herrschaft zu erlangen. Und wie könnten sie Herrschaft üben ohne die Menge? Jawohl, Macht, Autorität, Zwang und Abhängigkeit ruht auf der Masse, aber nie die Freiheit, nie die freie Entfaltung des Individuums, nie die Geburt einer freien Gesellschaft.

Nicht weil ich mit den Unterdrückten, den Enterbten der Erde nicht mitfühlte; nicht weil ich die Schmach, das Entsetzen, die Würdelosigkeit des Lebens, das das Volk führt, nicht kennte, verwerfe ich die Mehrheit als schöpferische Kraft und Quelle des Guten. O nein, nein! Sondern weil ich so gut weiß, daß das Volk als kompakte Masse niemals für Recht oder Gleichheit eingetreten ist. Es hat die Menschenstimme unterdrückt, den Menschengeist unterjocht, den Menschenleib gefesselt. Als Masse ist sein Ziel immer gewesen, das Leben gleichförmig, grau und eintönig wie die Wüste zu machen. Als Masse wird es immer der Vernichter der Individualität, der freien Initiative, der Ursprünglichkeit sein. Darum glaube ich mit Emerson, daß »die Massen roh, lähmend und verderblich in ihren Forderungen und ihrem Einfluß sind und daß man ihnen nicht schmeicheln, sondern sie bilden soll. Ich wünsche ihnen nicht das mindeste zuzugestehen, sondern sie zu teilen und zu zertrümmern und Individuen aus ihnen herauszuziehen. Massen! Das Unheil sind die Massen. Ich will überhaupt keine Masse haben, sondern nur ehrbare Männer und liebliche, süße, reife Frauen.

Mit anderen Worten: Die lebendige Wahrheit der sozialen und wirtschaftlichen Wohlfahrt wird nur Wirklichkeit werden durch den Eifer, die Tapferkeit, die unnachgiebige Festigkeit intelligenter Minoritäten, aber nicht durch die Masse.


Scan aus: Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt - herausgegeben und eingeleitet von Otthein Rammstedt [Westdeutscher Verlag - Köln Opladen 1969]
Textnachweis von Otthein Rammstedt: "Aus der Vielzahl von Zeitungsartikeln der amerikanischen Anarchistin ist diese anonyme Übersetzung aus dem Jahre 1910 aufgenommen worden, die »Der Sozialist« in seinem 3. Jahrgang, 1911, S. 113-114 druckte."