#title Francisco Ferrer und die moderne Schule #author Emma Goldman #SORTauthors Goldman, Emma; #SORTtopics Moderne Schule, Katholizismus, Spanien, Bildung, Justiz #date 1911 #lang de #pubdate 2017-12-25T20:04:26 #notes Aus: Goldman – Anarchismus und andere Essays. 1. Auflage, Dezember 2013. Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte«. hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. ISBN 978-3-89771-920-0. UNRAST-Verlag, Münster. S.123–140. (Mother Earth Publication | 2 nd Ed. 1911) Lebenserfahrung wird mittlerweile gemeinhin als die beste Schule angesehen. Der Mann oder die Frau, die in dieser Schule keine grundlegende Lektion gelernt hat, wird als Dummkopf betrachtet. Dennoch nehmen wir, so eigenartig es auch ist, die Tatsache als selbstverständlich hin, dass organisierte Institutionen immer wieder die gleichen Fehler machen, aber nichts aus ihrer Erfahrung lernen. In Barcelona lebte und arbeitete einst ein Mann namens Francisco Ferrer. Er war Lehrer, unterrichtete Kinder und war bei den Seinen bekannt und beliebt. Außerhalb Spaniens wussten nur die wenigen Gebildeten von der Arbeit Francisco Ferrers. Für einen Großteil der Welt gab es diesen Lehrer gar nicht. Am 1. September 1909 ließ die spanische Regierung Francisco Ferrer festnehmen – auf Geheiß der katholischen Kirche. Am 13. Oktober wurde er nach einem Scheinprozess zum Graben des Montjuich-Gefängnisses gebracht, an die scheußliche Wand der vielen Seufzer gestellt und erschossen. Sogleich wurde Ferrer, der unbekannte Lehrer, zu einer allgemein bekannten Persönlichkeit, an deren willkürlicher Ermordung Entrüstung und Zorn der gesamten zivilisierten Welt entbrannten. Die Ermordung Francisco Ferrers war nicht das erste Verbrechen der spanischen Regierung und der katholischen Kirche. Die Geschichte dieser Institutionen gleicht einem langen Strom aus Feuer und Blut. Sie haben noch nichts aus ihren Erfahrungen gelernt und ihnen ist auch noch nicht klar, dass alles Kleine und Zerbrechliche, das Kirche und Staat abschlachten, in der Folge zu etwas Mächtigem heranwächst, das eines Tages die Menschheit aus ihren gefährlichen Fängen befreien wird. Francisco Ferrer wurde 1859 in einfachen Verhältnissen geboren. Seine Eltern waren katholisch und hofften daher, ihren Sohn im gleichen Glauben erziehen zu können. Sie wussten nicht, dass er einst der Vorbote einer großen Wahrheit werden würde, dass sich sein Geist weigern würde, auf alten Wegen zu wandeln. Schon früh begann Ferrer den Glauben seines Vaters zu hinterfragen. Er wollte wissen, wie es kam, dass der Gott, der zu ihm von Güte und Liebe sprach, gleichzeitig einem unschuldigen Kind mit der Furcht und Angst vor Folter, Leid und Hölle den Schlaf rauben konnte. Aufmerksam und von wachem, neugierigem Geist durchschaute er bald die Abscheulichkeit dieses schwarzen Monsters, der katholischen Kirche. Er würde damit nichts zu tun haben. Francisco Ferrer war nicht nur ein Zweifler auf der Suche nach der Wahrheit, er war auch ein Rebell. Sein Geist erhob sich in gerechter Empörung gegen das eiserne Regime seines Landes und als eine Gruppe Aufständischer, angeführt vom mutigen Patrioten General Villacampa, unter dem Banner des republikanischen Ideals das Regime angriff, gab es keinen feurigeren Kämpfer als den jungen Francisco Ferrer. Das republikanische Ideal, so hoffe ich, wird nicht mit dem Republikanismus dieses Landes verwechseit. Auch wenn ich als Anarchistin den Republikanismus der spanischsprachigen Welt ablehne, so ist mir doch klar, dass er jene korrupte und reaktionäre Partei, die in den USA jede Spur von Freiheit und Gerechtigkeit zerstört, haushoch überragt. Man denke nur an die Mazzinis, die Garibaldis, die Erfolge anderer, und es wird deutlich, dass sie nicht nur gegen den Despotismus kämpften, sondern insbesondere gegen die katholische Kirche, die von Anbeginn an jedem Fortschritt und Liberalismus feindlich gesinnt gewesen ist. In den USA ist genau das Gegenteil der Fall. Republikanismus steht für angestammte Rechte, für Imperialismus, für Bestechung, für die Vernichtung jeden Anscheins von Freiheit. Sein Ideal ist die schmierige, gruslige Achtbarkeit eines McKinley und die brutale Arroganz eines Roosevelt. Der Aufstand der spanischen Republikanerinnen wurde niedergeschlagen. Um den Fels der Ewigkeit zu zerschlagen, um die Hydra – die katholische Kirche und den spanischen Thron – zu köpfen, braucht es mehr als eine einzige mutige Anstrengung. Auf den heroischen Versuch der kleinen Gruppe folgten Verhaftung, Verfolgung und Bestrafung. Wer den Bluthunden entkommen konnte, musste aus Sicherheitsgründen das Land verlassen. So auch Francisco Ferrer. Er ging nach Frankreich. Wie muss seine Seele in dem neuen Land gewachsen sein! Frankreich, die Wiege der Freiheit, der Ideen, der Aktion. Nach der Düsterkeit seines eigenen zurückgebliebenen Landes nun Paris zu erleben, diese ewig junge, intensive Stadt mit ihrem pulsierenden Leben – wie muss ihn das inspiriert haben! Welche Möglichkeiten, welche glorreiche Chance für einen jungen Idealisten. Francisco Ferrer verlor keine Zeit. Wie ausgehungert stürzte er sich in die verschiedenen liberalen Bewegungen, lernte die unterschiedlichsten Menschen kennen, lernte, absorbierte und wuchs. Während seiner Zeit dort lernte er auch die Moderne Schule kennen, die später in seinem Leben eine so wichtige und fatale Rolle spielen sollte. Die Moderne Schule in Frankreich wurde lange vor Ferrers Zeit ins Leben gerufen. Ihre Begründerin war, wenn auch in kleinem Umfang, die reizende Louise Michel. Bewusst oder unbewusst hatte unsere großartige Louise schon lange gefühlt, dass die Zukunft der jungen Generation gehörte; dass das gesellschaftliche Elend fortbestehen müsste, wenn nicht die Jugend vor der bourgeoisen Schule gerettet würde, jener Institution, die Geist und Seele der Menschen zerstört. Vielleicht war sie wie Ibsen der Ansicht, dass die Atmosphäre von Geistern durchsetzt sei, dass der erwachsene Mensch so viele Arten von Aberglauben überwinden müsse. Kaum hat er sich aus den Klauen eines Geistes befreit, siehe da, schon befindet er sich in der Knechtschaft von 99 anderen. So erreichen nur sehr wenige den Gipfel des Berges der völligen Erneuerung. Das Kind aber muss keine Traditionen überwinden. Seine Gedankenwelt ist nicht mit festen Ideen belastet, sein Herz ist nicht erkaltet von Klassen- und Kastenunterscheidungen. Das Kind ist für den Lehrer wie der Ton für den Töpfer. Von der Kreativität des Lehrers hängt es größtenteils ab, ob die Welt ein Kunstwerk oder eine scheußliche Imitation bekommen wird. Louise Michel konnte in erster Linie das Verlangen von Kinderseelen stillen. War sie nicht selbst wie ein Kind, so süß und zart, schlicht und großzügig? Angesichts sozialer Ungerechtigkeiten brannte Louises Seele stets in Weißglut. Ausnahmslos kämpfte sie in der ersten Reihe, wenn sich die Einwohnerinnen von Paris gegen Missstände wehrten. Und da sie aufgrund ihrer bedingungslosen Hingabe für die Unterdrückten eine Gefängnisstrafe verbüßen musste, gab es die kleine Schule in Montmartre bald nicht mehr. Aber der Samen war ausgebracht, die Pflanze ist gewachsen und hat seither in vielen französischen Städten Früchte getragen. Das bedeutendste Schulprojekt dieser Art war das des großartigen jungen Paul Robin. Zusammen mit einigen Freunden baute er eine große Moderne Schule in Cempuis auf, einem herrlichen Ort nahe Paris. Paul Robin verfolgte nicht nur moderne Ideen von Erziehung, sondern er strebte nach Höherem. Er wollte durch reale Fakten beweisen, dass das bourgeoise Konzept der Vererbung ein bloßer Vorwand ist, die Gesellschaft von ihren schrecklichen Vergehen an der Jugend freizusprechen. Die Ansicht, dass das Kind die Sünden seiner Vorfahren büßen muss, dass es weiter in Armut und Schmutz leben muss, dass aus ihm ein Trunkenbold oder Krimineller werden muss, nur weil ihm seine Eltern kein anderes Vermächtnis hinterlassen haben, erschien dem wunderbaren Geist Paul Robins schlichtweg absurd. Er glaubte, dass, welche Rolle die Vererbung auch spiele, andere Faktoren ebenso wichtig waren, wenn nicht noch wichtiger, um die sogenannte Erstursache ausschalten oder minimieren zu können. Angemessene wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen, der Atem und die Freiheit der Natur, gesunder Sport, Liebe und Sympathie und vor allem ein tiefgreifendes Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes – das würde mit dem grausamen, ungerechten und kriminellen Stigma, das den unschuldigen Meinen auferlegt wurde, aufräumen. Paul Robm wählte seine Kinder nicht aus; er ging nicht zu den sogenannten besten Eltern. Er suchte sich sein Material, wo auch immer er es finden konnte: auf der Straße, in den Hütten der Armen, den Waisen- und Findlingshäusern, den Besserungsanstalten, an all jenen grauen und abscheulichen Orten, an denen eine gütige Gesellschaft ihre Opfer versteckt, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Er sammelte all die schmutzigen, zerlumpten, zitternden kleinen Kinder ein, die er nur unterbringen konnte, und nahm sie mit nach Cempuis. Dort, umgeben von der reinen Pracht der Natur, frei und ungezügelt, gut ernährt, sauber, von Herzen geliebt und verstanden, begannen die kleinen menschlichen Pflanzen zu wachsen, zu blühen und sich sogar noch weiter zu entwickeln, als es ihr Freund und Lehrer Paul Robin sich hätte träumen lassen. Die Kinder wuchsen zu selbstständigen, freiheitsliebenden Männern und Frauen heran. Was hätte eine größere Gefahr sein können für die Institutionen, die Arme hervorbringen, um sie in Armut zu halten? Cempuis wurde von der französischen Regierung wegen Gemeinschaftserziehung geschlossen, weil diese in Frankreich verboten ist. Dennoch war Cempuis lange genug in Betrieb gewesen, um allen fortschrittlichen Erzieherinnen und Unterrichtenden seine gewaltigen Möglichkeiten aufzuzeigen und als Impuls für moderne Bildungsmethoden zu dienen, die langsam, aber unaufhörlich dabei sind, das bestehende System zu untergraben. Auf Cempuis folgten viele andere Bildungsprojekte – darunter das von Madelaine Vernet, einer begabten Autorin und Dichterin, die l’Amour Libre geschrieben hat, und La Ruche[1] von Sebastian Faure, das ich 1907 während meines Aufenthaltes in Paris besucht habe. Vor einigen Jahren kaufte Faure ein Stück Land und errichtete dort La Ruche. Innerhalb relativ kurzer Zeit gelang es ihm, das ehemals wilde, brachliegende Land in einen blühenden Ort zu verwandeln, der ganz den Anschein einer gut versorgten Farm erweckt. Ein großer, viereckiger Hof, von drei Gebäuden eingeschlossen, und ein breiter Weg, der zum Garten und zur Obstwiese führt, grüßen das Auge der Besucherinnen. Der Garten, in einer Weise bebaut, wie es nur die Französinnen und Franzosen verstehen, versorgt La Ruche mit den verschiedensten Gemüsesorten. Sebastian Faure vertritt die Ansicht, dass die Entwicklung des Kindes leidet, wenn es widersprüchlichen Einflüssen ausgesetzt ist. Nur wenn die materiellen Bedürfnisse, die häusliche Hygiene und die intellektuelle Umgebung in Einklang stehen, kann sich das Kind zu einem gesunden, freien Wesen entwickeln. In Bezug auf seine Schule sagt Sebastian Faure: »Ich habe 24 Kinder beider Geschlechter aufgenommen, die meisten Waisen oder von Eltern, die zu arm waren, um für die Kinder sorgen zu können. Sie werden auf meine Kosten eingekleidet, untergebracht und unterrichtet. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr erhalten sie eine solide Grundbildung. Zwischen zwölf und 15 Jahren lernen sie gemäß ihrer individuellen Interessen und Fähigkeiten ein Handwerk, während der normale Unterricht ebenfalls fortgesetzt wird. Dann steht es ihnen frei, La Ruche zu verlassen und ein Leben draußen zu beginnen, wobei sie jederzeit die Möglichkeit haben, nach La Ruche zurückzukehren, wo wir sie mit offenen Armen empfangen wie Eltern ihre geliebten Kinder. Wenn sie dann bei uns arbeiten wollen, können sie das unter folgenden Bedingungen tun: Ein Drittel des Erlöses ihrer Produktivität dient der Deckung der Kosten für ihren Lebensunterhalt, das zweite Drittel geht in einen allgemeinen Fonds, der für neue Kinder gedacht ist, und das letzte Drittel ist für den persönlichen Gebrauch des Kindes nach seiner eigenen Entscheidung bestimmt. Die Kinder, die ich nun in meiner Obhut habe, erfreuen sich perfekter Gesundheit. Saubere Luft, nahrhaftes Essen, Sport im Freien, lange Spaziergänge, die Beachtung hygienischer Grundregeln, die kurzen und interessanten Lehrmethoden und vor allem unser liebevolles Verständnis für die Kinder und der herzliche Umgang mit ihnen zeigen großartige physische und mentale Ergebnisse. Es wäre nicht richtig, zu behaupten, dass unsere Schülerinnen Wunder vollbracht hätten; wenn wir aber in Betracht ziehen, dass sie dem Durchschnitt angehören, der früher keinerlei Möglichkeiten zur Entfaltung hatte, dann sind die Ergebnisse wirklich erfreulich. Das Wichtigste, das sie sich angeeignet haben, ist die Liebe zum Lernen, der Wunsch nach Wissen, nach Informationen. Das ist bei Kindern an gewöhnlichen Schulen selten der Fall. Sie haben eine neue Arbeitsmethode erlernt, eine, die das Gedächtnis beschleunigt und die Vorstellungskraft anregt. Wir bemühen uns besonders, das Interesse der Kinder für ihre Umwelt zu wecken, damit sie merken, wie wichtig es ist zu beobachten, zu untersuchen und zu reflektieren, sodass sie, wenn sie groß sind, nicht taub und blind für die Dinge in ihrer Umgebung sind. Unsere Kinder akzeptieren niemals etwas in blindem Glauben, ohne das Warum und Wofür zu erforschen; und sie geben sich auch nicht zufrieden, bis ihre Fragen nicht gründlich beantwortet sind. So ist ihr Geist frei von Zweifeln und Angst, die aus unvollständigen oder falschen Antworten entstehen können; letztere sind es, die das Wachsen des Kindes stören und sein Vertrauen in sich selbst und die Menschen um es herum schädigen. Es überrascht, wie offen und freundlich und liebevoll unsere Kleinen miteinander umgehen. Die Harmonie zwischen ihnen und den Erwachsenen in La Ruche ist höchst ermutigend. Es wäre falsch, wenn die Kinder uns nur deswegen fürchteten oder ehrten, weil wir die Älteren sind. Wir lassen nichts unversucht, um ihr Vertrauen und ihre Zuneigung zu gewinnen; gelingt das, wird Pflichtgefühl durch Verständnis ersetzt, Angst durch Vertrauen und Strenge durch Zuneigung. Noch kein Mensch ist sich ganz des Reichtums der Sympathie, Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit bewusst, die in der Seele eines Kindes verborgen sind. Die Bemühungen aller wahrhaften Erzieherinnen sollten darauf ausgerichtet sein, diesen Schatz zu öffnen, um die Impulse des Kindes zu stimulieren und die besten und edelsten Neigungen in ihm zu wecken. Kann es für das Lebenswerk eines Menschen eine größere Auszeichnung geben, als über das Wachstum der menschlichen Pflanze wachen zu können, zu sehen, wie sie ihre Blütenblätter öffnet, und zu beobachten, wie sie sich mit wahrhafter Einzigartigkeit entwickelt? Meine Kolleginnen in La Ruche suchen keine andere Belohnung und es ist ihnen und ihren Anstrengungen noch mehr zu verdanken als meinen, dass unser menschlicher Garten wunderbare Früchte zu tragen verspricht.«[2] Über die Geschichte und die weiterhin vorherrschenden alten Lehrmethoden sagte Sebastian Faure: »Wir erklären unseren Kindern, dass die wahre Geschichte noch geschrieben werden muss – die Geschichte jener Unbekannten, die bei ihren Bemühungen, der Menschheit zu Höherem zu verhelfen, ihr Leben ließen.«[3] Francisco Ferrer wurde von dieser großen Welle von modernen Schulprojekten mitgerissen. Er erkannte deren Möglichkeiten – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der praktischen Anwendung auf die alltäglichen Bedürfnisse. Ihm muss klar gewesen sein, dass Spanien mehr als jedes andere Land genau solche Schulen brauchte, wenn es jemals das doppelte Joch von Priestern und Soldaten abschütteln wollte. Wenn wir in Betracht ziehen, dass das gesamte spanische Bildungssystem in den Händen der katholischen Kirche liegt, und wir uns dann weiterhin an die katholische Leitlinie erinnern, die besagt: »Wenn der Katholizismus dem Kind vor seinem neunten Lebensjahr eingeschärft wird, ist es niemals mehr für andere Ideen empfänglich« – dann verstehen wir die gewaltige Aufgabe, die vor Ferrer lag, als er den Menschen seines Landes das neue Licht bringen wollte. Bald schon half ihm das Schicksal, seinen großartigen Traum zu verwirklichen. Mademoiselle Meunier, eine wohlhabende Dame und Schülerin Francisco Ferrers, begann, sich für das Projekt der Modernen Schule zu interessieren. Als sie starb, hinterließ sie Ferrer wertvollen Besitz und für die Schule ein jährliches Einkommen von 1.000 Franc. Es heißt, dass niederträchtige Seelen nichts anderes ersinnen könnten als niederträchtige Ideen. Wenn das der Fall ist, kann es die verachtenswerten Methoden der katholischen Kirche erklären, die Ferrers Charakter in den Dreck zog, um ihre eigenen dunklen Verbrechen zu rechtfertigen. So wurde in US-amerikanischen katholischen Zeitungen die Lüge in die Welt gesetzt, dass Ferrer seine Vertrautheit mit Mademoiselle Meunier ausgenutzt hätte, um sich ihres Geldes zu bemächtigen. Ich selbst bin der Ansicht, dass Vertrautheit zwischen einem Mann und einer Frau, welcher Art auch immer, ihre persönliche Angelegenheit ist, ihr heiliges Eigentum. Deshalb würde ich nicht einmal ein Wort über die Angelegenheit verlieren, wenn es nicht eine der vielen gemeinen Lügen wäre, die über Ferrer im Umlauf sind. Wer natürlich die Keuschheit des katholischen Klerus kennt, wird die Anspielung verstehen. Haben die katholischen Priester in einer Frau je etwas anderes als ein Sexualobjekt gesehen? Die historischen Daten bezüglich der Entdeckungen, die in Klöstern gemacht wurden, werden mir diesbezüglich recht geben. Wie sollen sie dann auch das Zusammenwirken eines Mannes und einer Frau verstehen, wenn nicht auf sexueller Ebene? Tatsache ist, dass Mademoiselle Meunier bedeutend älter war als Ferrer. Sie, die ihre Kindheit und Jugend bei einem geizigen Vater und einer unterwürfigen Mutter zugebracht hatte, konnte die Notwendigkeit von Liebe und Freude für das Leben eines Kindes leicht begreifen. Sie muss den wahren Lehrer in Francisco Ferrer erkannt haben – nicht am College oder durch eine Maschine oder ein Diplom geformt, sondern einen Lehrer, der mit dem Genie für diese Berufung ausgestattet war. Mit Wissen, Erfahrung und den notwendigen Mitteln ausgestattet, vor allem aber erfüllt vom göttlichen Feuer seiner Mission, kehrte Ferrer nach Spanien zurück und begann dort sein Lebenswerk. Am 9. September 1901 eröffnete die erste Moderne Schule. Sie wurde von der Bevölkerung von Barcelona begeistert aufgenommen und unterstützt. In einer kurzen Ansprache anlässlich der Schuleröffnung erklärte Ferrer seinen Freundinnen sein Programm. Er sagte: »Ich bin kein Redner, kein Propagandist, kein Kämpfer. Ich bin Lehrer; ich liebe Kinder über alles. Ich glaube, sie zu verstehen. Mein Beitrag zur Sache der Freiheit soll eine junge Generation sein, die auf eine neue Ära vorbereitet ist.« Seine FreundInnen mahnten ihn bezüglich seiner Ablehnung der katholischen Kirche zur Vorsicht. Sie wussten, wie weit diese gehen würde, um sich eines Feindes zu entledigen. Auch Ferrer wusste das. Aber wie Brand glaube er an alles oder nichts. Er würde die Moderne Schule nicht auf der gleichen alten Lüge errichten. Er würde freimütig und offen und ehrlich zu den Kindern sein. Francisco Ferrer wurde gebrandmarkt. Vom Tag der Schuleröffnung an wurde er beschattet. Die Schule stand unter Beobachtung, ebenso wie sein kleines Zuhause in Mangat. Er wurde auf Schritt und Tritt verfolgt, selbst wenn er zu Beratungen mit seinen KollegInnen nach Frankreich oder England reiste. Er war ein gebrandmarkter Mann und es war nur eine Frage der Zeit, bis der lauernde Feind die Schlinge um seinen Hals zuziehen würde. Fast gelang es 1906, als Ferrer in das Attentat auf König Alfons XIII. verwickelt war. Gegen das ihn entlastende Beweismaterial jedoch kamen selbst die schwarzen Krähen[4] nicht an; sie mussten ihn gehen lassen – zumindest dieses Mal. Sie warteten. Oh, wie sie warten können, wenn sie sich vorgenommen haben, ein Opfer in die Falle zu locken. Im Juli 1909 war dann der Zeitpunkt gekommen, nämlich während des antimilitaristischen Aufstandes in Spanien (›Tragische Woche‹). Man wird die Annalen der Revolutionsgeschichte vergeblich durchforschen müssen, wenn man einen bemerkenswerteren Protest gegen den Militarismus finden will. Nachdem das Land Jahrhunderte lang vom Militär dirigiert worden war, ertrugen die SpanierInnen das Joch nicht mehr. Sie weigerten sich, das sinnlose Schlachten weiter mitzumachen. Sie sahen keinen Grund, warum sie einer despotischen Regierung dabei helfen sollten, ein kleines Volk zu unterwerfen und zu unterdrücken, das für seine Unabhängigkeit kämpfte, wie es die mutigen Rifkabylen[5] taten. Nein, sie würden die Waffen nicht mehr gegen sie erheben. Über 1.800 Jahre lang hatte die katholische Kirche Frieden gepredigt. Aber als die Menschen diese Botschaft endlich in die Realität umsetzen wollten, ersuchte sie den spanischen Staatsapparat, die Menschen zum Tragen von Waffen zu zwingen. Damit folgte die Dynastie Spaniens den mörderischen Methoden der russischen Dynastie – die Menschen wurden auf das Schlachtfeld gezwungen. Dann, und erst dann, hielten es die Menschen nicht mehr aus. Dann, und erst dann, erhoben sich die Arbeiterinnen Spaniens gegen ihre Herren, gegen jene, die wie Blutegel ihre Kraft ausgesaugt hatten, ihr Leben selbst – Blut. Ja, sie griffen die Kirchen und die Priester an, aber selbst wenn letztere tausend Leben hätten, würden diese nicht ausreichen, um sie auch nur annähernd für die schrecklichen Gewalttaten und Verbrechen bezahlen zu lassen, die sie an der spanischen Bevölkerung verübt haben. Francisco Ferrer wurde am 1. September 1909 festgenommen. Bis zum 1. Oktober wussten seine FreundInnen und GenossInnen nicht, was mit ihm geschehen war. An diesem Tag ging ein Brief bei L’Humanité ein, aus dem das ganze lächerliche Gerichtsverfahren ersichtlich wird. Und am nächsten Tag erhielt seine Gefährtin Soledad Villafranca folgenden Brief: »Kein Grund zur Sorge; du weißt ja, ich bin völlig unschuldig. Heute bin ich von besonderer Freude und Hoffnung erfüllt. Das ist das erste Mal, dass ich dir schreiben kann, und das erste Mal seit meiner Verhaftung, dass ich in den Strahlen der Sonne baden kann, die großzügig durch das Fenster meiner Zelle scheint. Du musst dich mir mit freuen.« Wie bedauernswert, dass Ferrer noch bis zum 4. Oktober zu glauben schien, dass er nicht zum Tode verurteilt würde. Und noch bedauernswerter, dass seine FreundInnen und GenossInnen noch einmal den Fehler begehen sollten, dem Feind einen Gerechtigkeitssinn zuzutrauen. Immer wieder hatten sie der Judikative Glauben geschenkt, nur um dann zusehen zu müssen, wie ihre Geschwister vor ihren eigenen Augen getötet wurden. Sie bereiteten keine Rettung für Ferrer vor, nicht einmal einen kleinen Protest, nichts. »Warum, schließlich kann Ferrer nicht verurteilt werden; er ist unschuldig.« Aber bei der katholischen Kirche ist alles möglich. Ist sie nicht eine gerissene Spießgesellin, die dafür sorgt, dass es der Gerechtigkeit schlimmster Hohn ist, wenn Feinde vor Gericht stehen? Am 4. Oktober schickte Ferrer folgenden Brief an L’Humanité: »Aus der Gefängniszelle, 4. Okt. 1909 Meine lieben FreundInnen. Trotz meiner völligen Unschuld fordert der Staatsanwalt die Todesstrafe. Er beruft sich dabei auf Aussagen von Polizisten, die mich als Anführer der AnarchistInnen der Welt und Anführer der Gewerkschaften von Frankreich darstellen. Außerdem werde ich aller möglichen Verschwörung und Aufstände an allen möglichen Orten beschuldigt und es heißt, meine Reisen nach London und Paris hätten keinem anderen Zweck gedient. Mit solch niederträchtigen Lügen versuchen sie, mich zu töten. Der Bote muss gleich aufbrechen, ich habe keine Zeit, weiterzuschreiben. All die angeblichen Beweise, die dem Untersuchungsrichter von der Polizei präsentiert wurden, sind nichts als ein Netz aus Lügen und verleumderischen Andeutungen. Es liegen keinerlei Beweise gegen mich vor, da ich absolut nichts getan habe. Ferrer.« Am 13. Oktober 1909 wurde Ferrers Herz, so mutig, so aufrichtig, so loyal, zum Schweigen gebracht. Arme Narren! Der letzte Schlag dieses Herzens war gerade dem Todeskampf erlegen, als es hundertfach in den Herzen der zivilisierten Welt zu schlagen begann, bis es zu einem ungeheuren Donner anschwoll und den Anstiftern dieses dunklen Verbrechens seinen Fluch entgegenschleuderte. Mörder in schwarzer Robe mit religiöser Miene, nun sollt ihr erfahren, was Gerechtigkeit ist! War Francisco Ferrer an dem Aufstand gegen das Militär beteiligt gewesen? Der ersten Anklage zufolge, die in einer katholischen Zeitung in Madrid abgedruckt wurde und vom Bischof und allen Prälaten Barcelonas unterzeichnet war, wurde er der Teilnahme nicht einmal beschuldigt. Die Anklage erweckte den Eindruck, dass Francisco Ferrer einer anderen Sache schuldig war, nämlich dass er gottlose Schulen organisiert und gottlose Literatur verbreitet hatte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert kann kein Mensch mehr allein wegen seiner Gottlosigkeit verbrannt werden. Ein anderer Grund musste her: Deshalb wurde er der Anstiftung zum Aufstand bezichtigt. In keiner authentischen Quelle, die bisher untersucht wurde, konnte auch nur ein Beweis gefunden werden, der Ferrer mit dem Aufstand in Verbindung brachte. Aber von den Behörden wurden auch keine Beweise gewollt oder akzeptiert. Zwar gab es 72 ZeugInnen, aber ihre Aussagen wurden lediglich schriftlich erfasst. Nie wurde ihnen Ferrer gegenübergestellt und auch er bekam sie nie zu Gesicht. Wäre es vom psychologischen Standpunkt her möglich, dass Ferrer dabei gewesen war? Ich glaube das nicht und zwar aus den folgenden Gründen: Francisco Ferrer war nicht nur ein großartiger Lehrer, sondern ohne Zweifel auch ein fantastisches Organisationstalent. In den acht Jahren von 1901 bis 1909 hatte er in Spanien 109 Schulen begründet und nebenbei in seinem Land das liberale Element geweckt, sodass noch 308 weitere Schulen ins Leben gerufen wurden. Im Zusammenhang mit seiner eigenen Schularbeit hatte Ferrer eine moderne Druckerei eingerichtet, ein Übersetzungsteam organisiert und 150.000 Exemplare moderner wissenschaftlicher und soziologischer Arbeiten verbreitet, ganz abgesehen von einer großen Anzahl rationaler Lehrbücher. So etwas ist sicherlich nur dem methodischsten und effizientesten Organisator möglich. Hinzu kommt die zweifelsfrei bewiesene Tatsache, dass der Aufstand gegen das Militär überhaupt nicht organisiert worden war; dass die Menschen selbst davon überrascht wurden, wie schon bei zahlreichen revolutionären Wellen zuvor geschehen. Die Menschen von Barcelona beispielsweise kontrollierten ihre Stadt vier Tage lang und TouristInnen berichten, dass es dort nie ordentlicher und friedlicher gewesen war. Natürlich waren die Leute so wenig vorbereitet, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten, als der Zeitpunkt da war. In dieser Hinsicht waren sie wie die Menschen in Paris während der Kommune von 1871. Auch sie waren nicht vorbereitet gewesen. Sie hungerten und schützten gleichzeitig Warenhäuser, die randvoll mit Vorräten gefüllt waren. Sie stellten Wachposten zum Schutz vor die Bank von Frankreich, in der die Bourgeoisie das gestohlene Geld deponiert hatte. Auch die ArbeiterInnen von Barcelona wachten über die Beute ihrer Herren. Wie bedauernswert ist doch die Dummheit der Unterdrückten; wie schrecklich tragisch! Aber schneiden ihnen ihre Fesseln nicht so tief ins Fleisch, dass sie sie, selbst wenn sie es könnten, nicht lösen würden? Die Ehrfurcht vor der Autorität, vor dem Gesetz, vor dem Privatbesitz ist ihnen hundertfach in die Seele gebrannt – wie sollen sie das alles so unvorbereitet, so unerwartet wegwerfen? Ist es denn möglich, auch nur eine Sekunde lang anzunehmen, dass sich ein Mann wie Ferrer einer solch spontanen, unorganisierten Sache anschließen würde? Hätte er nicht wissen müssen, dass die Niederlage vorprogrammiert war, eine verheerende Niederlage für die Menschen? Und ist es nicht wahrscheinlicher, dass er, der erfahrene Entrepreneur, den Versuch viel gründlicher organisiert hätte, wenn er wirklich daran teilgenommen hätte? Wenn auch sonst keinerlei Beweise existierten, dann wäre dieser eine Faktor Beweis genug für Francisco Ferrers Unschuld. Für den Tag, als der Aufstand ausbrach, den 25. Juli, hatte Ferrer für seine LehrerInnen und die Mitglieder der League of Rational Education eine Konferenz einberufen. Die Arbeit für den Herbst sollte besprochen werden, insbesondere die Veröffentlichung von Elisée Reclus‘ großartigem Buch L’Homme et la Terre und Peter Kropotkin’s Die Französische Revolution 1789–1793. Ist es überhaupt wahrscheinlich, ist es auch nur plausibel, anzunehmen, dass Ferrer, hätte er von dem Aufstand gewusst oder gar darin eine Rolle gespielt, eiskalt für diesen Tag seine FreundInnen und KollegInnen nach Barcelona eingeladen hätte, wo doch ihr Leben in Gefahr sein konnte? Sicher, nur der kriminelle, bösartige Kopf eines Jesuiten konnte sich einen solch vorsätzlichen Mord vorstellen. Francisco Ferrer hatte sein Lebenswerk entworfen; er konnte alles verlieren und nichts gewinnen als Ruin und Unglück, wenn er den Aufstand mit vorbereitet hätte. Nicht dass er den Zorn der Menschen nicht für gerechtfertigt hielt; aber seine Arbeit, seine Hoffnung, seine Natur selbst hatten andere Ziele. Vergeblich sind die hektischen Mühen der katholischen Kirche, ihre Lügen, Falschheiten, Verleumdungen. Das erwachte menschliche Gewissen verurteilt sie, weil sie noch einmal die schändlichen Verbrechen der Vergangenheit wiederholt hat. Francisco Ferrer wird beschuldigt, den Kindern die markerschütterndsten Ideen vermittelt zu haben – Gott zu hassen beispielsweise. Oh Schreck! Francisco Ferrer glaubte nicht an die Existenz eines Gottes. Warum sollte er den Kindern beibringen, etwas zu hassen, das es gar nicht gibt? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass er die Kinder mit nach draußen ins Freie nahm, ihnen den Glanz des Sonnenuntergangs zeigte, das Leuchten der Sterne am Himmel, die ehrfurchtgebietenden Wunder der Berge und Meere; dass er ihnen in seiner einfachen, direkten Art das Gesetz des Wachstums, der Entwicklung, der Wechselbeziehungen allen Lebens erklärt hat? Indem er das tat, machte er es für immer unmöglich, dass die giftigen Unkräuter der katholischen Kirche im Geist des Kindes Wurzeln schlagen konnten. Es wurde auch gesagt, dass Ferrer die Kinder auf die Vernichtung der Reichen vorbereitet hätte. Ammenmärchen. Ist es nicht wahrscheinlicher, dass er sie darauf vorbereitete, den Armen beizustehen? Dass er ihnen von der Demütigung, der Erniedrigung, dem Schrecken der Armut erzählt hat, die ein Laster und keine Tugend ist; dass er sie die Würde und Bedeutung jeglicher kreativer Bemühungen lehrte, die allein das Leben erhalten und den Charakter formen? Ist das nicht der beste und effektivste Weg, die absolute Nutzlosigkeit des Schmarotzertums und der Schäden, die es anrichtet, ins rechte Licht zu rücken? Und nicht zuletzt wird Ferrer beschuldigt, die Armee unterwandert zu haben, indem er antimilitaristische Ideen verbreitete. War das so? Er muss mit Tolstoi geglaubt haben, dass Krieg legalisiertes Abschlachten ist, dass er Hass und Arroganz nährt, dass er die Herzen der Länder auffrisst und sie in tobende Irre verwandelt. Aber lassen wir doch Ferrer seine Ideen zur modernen Bildung mit seinen eigenen Worten erklären: »Ich möchte die Aufmerksamkeit meiner Leserinnen auf diese Idee lenken: Aller Wert der Bildung beruht auf dem Respekt des physischen, intellektuellen und moralischen Willens des Kindes. So wie in der Wissenschaft kein Beweis ohne Fakten möglich ist, so ist Bildung nur möglich, wenn sie von allem Dogmatismus befreit ist, wenn sie dem Kind selbst die Entscheidung überlässt, in welche Richtung seine Entwicklung gehen soll, und seine Bemühungen dahingehend unterstützt. Nun ist allerdings nichts leichter, als diesen Zweck zu verändern, und nichts ist schwerer, als ihn zu akzeptieren. Erziehung hat immer etwas mit Aufzwingen, Verletzen, Einschränken zu tun; wahre ErzieherInnen jedoch sind jene, die das Kind am besten vor ihren eigenen Ideen (denen der ErzieherInnen) schützen, vor ihren seltsamen Launen; diejenigen, die am besten die Energie des Kindes anregen können. Wir sind überzeugt, dass die Bildung der Zukunft völlig spontaner Natur sein wird; sicher können wir uns das jetzt noch nicht vorstellen, aber die Entwicklung von Methoden in Richtung eines breiteren Verständnisses des Phänomens Leben und die Tatsache, dass alles zur Perfektion strebt, sind Zeichen für die Überwindung der Beschränkungen – all das deutet darauf hin, dass wir richtig liegen, wenn wir auf die Befreiung des Kindes durch die Wissenschaft hoffen. Lasst uns ohne Furcht unseren Wunsch aussprechen, dass sich die Menschen ohne Schranken entfalten können, dass sie ihre Umwelt immer wieder zerstören und neu erschaffen können, ebenso wie sich selbst auch; Menschen, deren intellektuelle Unabhängigkeit ihre stärkste Kraft ist, die sich an nichts binden, stets bereit, das zu akzeptieren, was das Beste ist, die glücklich sind, wenn neue Ideen triumphieren, und die danach streben, ihr Leben in vielfältigen Formen zu leben. Die Gesellschaft fürchtet solche Menschen; deshalb dürfen wir nicht darauf hoffen, dass sie uns jemals aus freien Stücken eine solche Erziehung zukommen lassen wird. Wir sollten die Arbeit der Wissenschaftlerinnen verfolgen, die das Kind mit größter Aufmerksamkeit studieren, und eifrig nach Mitteln suchen, um ihre Erkenntnisse in der Bildung, wie wir sie aufbauen wollen, umzusetzen. Ziel soll dabei die weitere Befreiung des Individuums sein. Aber wie können wir das erreichen? Sollten wir zu diesem Zweck nicht direkt an der Gründung neuer Schulen arbeiten, die so umfassend wie möglich dem Geist der Freiheit verpflichtet sind, von dem wir jetzt schon fühlen, dass er die ganze Bildungsarbeit der Zukunft bestimmen wird? Es hat Versuche gegeben, die jetzt schon zu ausgezeichneten Ergebnissen geführt haben. Wir können all das zerstören, das den Zwang in den Schulen von heute ausmacht, die künstliche Umgebung, die die Kinder von Natur und Leben trennt, die intellektuelle und moralische Disziplin, die eingesetzt wird, um ihnen fertige Ideen aufzuzwingen und Glaubensformen, die natürliche Neigungen unterdrücken und vernichten. Ohne Angst vor Selbsttäuschung können wir für das Kind die Umgebung wiederherstellen, die es anregt, die Umgebung der Natur, in der es mit allen, die es liebt, Kontakt hat und in der die Eindrücke des Lebens das langweilige Lernen aus dem Lehrbuch ersetzen. Wenn wir allein das tun könnten, hätten wir schon einen großen Beitrag zur Befreiung des Kindes geleistet. Unter solchen Umständen können wir bereits frei die Daten aus der Wissenschaft anwenden, damit unsere Arbeit die besten Früchte trägt. Ich weiß sehr gut, dass wir auf diese Weise nicht all unsere Hoffnungen erfüllen können, dass wir aufgrund fehlender Kenntnisse noch oft gezwungen sein werden, unpassende Methoden anzuwenden; aber eine Sicherheit würde uns in unseren Bemühungen begleiten – nämlich, dass wir, auch wenn wir unser Ziel nicht ganz erreichen, unsere noch nicht perfekte Arbeit trotzdem umfassender und besser erledigen, als es an den gewöhnlichen Schulen von heute der Fall ist. Mir ist die freie Spontaneität eines Kindes, das nichts weiß, lieber als das Weltwissen und die intellektuelle Deformierung eines Rindes, das unserem derzeitigen Bildungssystem unterworfen wurde.«[6] Hätte Ferrer die Aufstände tatsächlich organisiert, hätte er auf den Barrikaden gekämpft, hätte er einhundert Bomben geworfen – er hätte der katholischen Kirche und dem Despotismus nicht so gefährlich werden können wie mit seinem Widerstand gegen Disziplin und Verbot. Disziplin und Verbot – sind sie nicht Ursprung allen Übels auf der Welt? Sklaverei, Unterwürfigkeit, Armut, all das Elend, all die sozialen Ungleichheiten sind auf Disziplin und Verbot zurückzuführen. Das machte Ferrer tatsächlich so gefährlich. Deshalb musste er am 13. Oktober 1909 im Graben von Montjuich sterben. Aber wer könnte es angesichts der stürmischen Welle der Entrüstung, die die Welt erfasste, wagen, seinen Tod als umsonst zu bezeichnen? In Italien wurden Straßen nach Francisco Ferrer benannt, in Belgien formierte sich eine Bewegung, die sich für die Errichtung eines Denkmals zu seinem Andenken einsetzte; in Frankreich setzten die berühmtesten Männer des Landes das Erbe des Märtyrers fort; in England erschien die erste Biographie; in allen Ländern wurde die großartige Arbeit Francisco Ferrers fortgesetzt; selbst in den USA, wo sich progressive Ideen meist eher langsam durchsetzen, wurde eine Francisco-Ferrer-Vereinigung gegründet, die es sich zum Ziel machte, das komplette Leben Ferrers zu veröffentlichen und Moderne Schulen im ganzen Land einzurichten. Wer kann angesichts dieser revolutionären Welle, die um die Welt ging, behaupten, sein Tod sei umsonst gewesen? Jener Tod im Gefängnis von Montjuich – wie wunderbar, wie dramatisch war es, als er die menschliche Seele aufrüttelte. Stolz und erhobenen Hauptes, das innere Auge auf das Licht gerichtet, brauchte Francisco Ferrer keinen verlogenen Priester, der ihm Mut zusprach, und er verdammte auch kein Phantom, ihn verlassen zu haben. Das Bewusstsein, dass seine Henker eine aussterbenden Zeit repräsentierten, während die lebendige Wahrheit sein war, gaben ihm in den letzten heldenhaften Momenten seines Lebens Kraft. Eine sterbende Zeit und eine lebendige Wahrheit, die Lebenden begraben die Toten. [1] Frz.: Der Bienenstock [2] Fußnote im Original: Mother Earth, 1907. [3] Fußnote im Original: Ebd. [4] Fußnote im Original: Schwarze Krähen: der katholische Klerus. [5] Rifkabylen – ein Berberstamm in Marrokko [6] Fußnote im Original: Mother Earth, Dezember 1909.