Errico Malatesta

Anarchisten als Regierungsbefürworter

1916

Unlängst ist ein Manifest[1] erschienen, unterzeichnet von Kropotkin, Malato und einem Dutzend weiterer alter Genossen, in dem sie, genau wie die Regierungen der Entente, die einen Kampf bis zum Äußersten, bis zur Niederwerfung Deutschland fordern, gegen die Idee eines »verfrühten Friedens« Stellung bezogen. Die kapitalistische Presse veröffentlicht, mit sichtlicher Befriedigung, Auszüge aus diesem Manifest, das sie als Werk »führender Vertreter der internationalen anarchistischen Bewegung« ausgibt. Die Anarchisten, die fast durchweg ihren Überzeugungen treu geblieben sind, haben die Pflicht, gegen diesen Versuch zu protestieren, den Anarchismus für die Fortsetzung eines blutigen Gemetzels zu vereinnahmen, das nie zu der Hoffnung Anlass gab, die Sache von Freiheit und Gerechtigkeit zu fördern und das sich inzwischen als absolute Sackgasse erweist, selbst aus Sicht der Herrschenden, egal, auf welcher Seite des Schützengrabens sie stehen.

Die Aufrichtigkeit und die guten Absichten derer, die das Manifest unterzeichnet haben, stehen außer Frage. Doch so schmerzlich es sein mag, sich mit alten Freunden zu Überwerfen, die der Sache, die in der Vergangenheit einmal unsere gemeinsame war, so viele gute Dienste erwiesen haben, so es ist es dennoch – aus Gründen der Ehrlichkeit und im Interesse unserer emanzipatorischen Bewegung – unerlässlich, sich von Genossen zu trennen, die anarchistische Ideen für vereinbar halten mit der Tatsache, dass man die Regierungen und die Kapitalistenklasse mancher Länder in ihrem Kampf gegen die Kapitalisten und Regierenden anderer Länder unterstützt.

Im Laufe des gegenwärtigen Krieges haben wir gesehen, wie sich Republikaner in den Dienst von Königen stellten, Sozialisten gemeinsame Sache mit der herrschenden Klasse machten, Arbeitervertreter den Interessen von Kapitalisten dienten; doch diese Leute sind allesamt, in unterschiedlichem Ausmaß, Konservative, die an die Mission des Staates glauben, und ihr Zögern ist verständlich, wenn man bedenkt, dass der einzige Ausweg in der Beseitigung jeder staatlichen Gängelung, in der Entfesselung der sozialen Revolution besteht. Doch auf Seiten der Anarchisten ist ein solches Zögern unverständlich. Wir behaupten, dass der Staat unfähig ist, irgendetwas Gutes zu bewirken. Sowohl auf internationaler Ebene als auch in individuellen Beziehungen kann er Aggression nur bekämpfen, indem er selbst zum Aggressor wird; er kann das Verbrechen nur verhindern, indem er noch größere Verbrechen organisiert und begeht. Selbst angenommen – was weit von der Wahrheit entfernt ist -, dass Deutschland die Alleinschuld für den gegenwärtigen Krieg trägt, so ist erwiesen, dass man Deutschland, wenn man Regierungsmethoden befolgt, nur widerstehen kann, indem man alle Freiheiten beseitigt und allen Kräften der Reaktion ihre Macht zurückerstattet.

Abgesehen von einer revolutionären Massenbewegung gibt es keinen anderen Weg, der Bedrohung durch eine disziplinierte Armee zu widerstehen, als eine noch stärkere und noch diszipliniertere Armee aufzustellen, sodass die entschiedensten Antimilitaristen, sofern sie keine Anarchisten sind und vor der Zerstörung des Staates zurückschrecken, keine andere Wahl haben, als zu glühenden Militaristen zu werden. Tatsächlich haben sie, in der fragwürdigen Hoffnung, den preußischen Militarismus zu zerschlagen, jeden Freiheitsgeist und alle freiheitlichen Traditionen aufgegeben, haben England und Frankreich verpreußt, haben sich dem Zarismus unterworfen, haben das Prestige des wankenden italienischen Throns wiederhergestellt.

Können Anarchisten auch nur einen Moment lang einen solchen Zustand billigen, ohne jegliches Recht verwirkt zu haben, sich Anarchisten zu nennen? Was mich betrifft, so ist mir selbst die gewaltsam aufgezwungene Fremdherrschaft, gegen die sich Widerstand regt, noch lieber als die Unterdrückung im Inneren, die demütig, fast dankbar ertragen wird, in der Hoffnung, dass uns auf diesem Wege ein größeres Übel erspart bleibt. Es ist sinnlos, wie die Verfasser und Unterzeichner des fraglichen Manifestes, zu behaupten, dass ihre Haltung durch außergewöhnliche Umstände bedingt sei und dass, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, jeder in sein Lager zurückkehren und für sein eigenes Ideal kämpfen wird. Denn wenn es jetzt notwendig ist, einträchtig mit der Regierung und dem Kapitalismus zusammenzuarbeiten, um sich vor der »teutonischen Gefahr« zu schützen, wird es auch nach dem Krieg notwendig sein. Egal, wie vernichtend die Niederlage der deutschen Armee ausfällt – sofern sie überhaupt geschlagen wird -, es wird niemals möglich sein, die deutschen Patrioten davon abzuhalten, auf Rache zu sinnen und sie vorzubereiten. Und die Patrioten anderer Regionen werden sich, aus ihrer Sicht vollkommen zu Recht, bereit halten wollen, um sich nicht überrumpeln zu lassen. Das bedeutet, dass der preußische Militarismus eine stehende und dauerhafte Einrichtung in allen Ländern wird. Was werden dann die angeblichen Anarchisten sagen, die jetzt den Sieg einer der kriegführenden Allianzen herbeiwünschen? Werden sie, wenn sie sich Antimilitaristen nennen, für Abrüstung, Wehrdienstverweigerung, Sabotage der Landesverteidigung eintreten, nur um sich beim geringsten Anzeichen eines neuen Krieges in Werbeoffiziere der Regierungen zu verwandeln, die sie zuvor hatten entwaffnen und lahmlegen wollen?

Es heißt, dergleichen würde sich erübrigen, wenn das deutsche Volk sich seiner Tyrannen entledigen würde und durch die Beseitigung des Militarismus in seinem Land keine Bedrohung ihr Europa mehr wäre. Doch würden die Deutschen nicht in der berechtigten Überzeugung, dass eine englische und französische Herrschaft (vom zaristischen Russland ganz zu schweigen) für die Deutschen nicht angenehmer wäre als eine deutsche Herrschaft über Franzosen und Engländer, gegebenenfalls lieber abwarten wollen, dass die Russen und die anderen ihren eigenen Militarismus abschaffen und bis dahin ihre Armee weiter aufrüsten? Und was dann? Wie lange soll man die Revolution aufschieben? Und die Anarchie? Müssen wir ewig warten, dass die anderen anfangen?

Die Maxime ihres Handelns ist den Anarchisten durch die unerbittliche Logik ihrer Ziele eindeutig vorgegeben.

Der Krieg hätte durch die Revolution verhindert werden müssen oder zumindest durch die Angst der Regierungen vor einer drohenden Revolution. Die Stärke und das Geschick, die dazu notwendig gewesen wären, haben gefehlt. Der Frieden muss durch die Revolution erzwungen werden, oder zumindest durch den Versuch, sie herbeizuführen. Dazu fehlt es derzeit wiederum an Stärke und Geschick. Nun gut! Es gibt nur einen Ausweg: es in der Zukunft besser zu machen. Mehr denn je müssen wir jeden Kompromiss ablehnen, die Kluft zwischen Kapitalisten und Lohnsklaven, Regierenden und Regierten vertiefen, die Enteignung des Privateigentums und die Zerstörung des Staates propagieren, als einzige Mittel, um ein brüderliches Zusammenleben der Völker sowie Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu garantieren. Und wir müssen uns darauf vorbereiten, all das auch zu bewerkstelligen. Bis dahin halte ich es für ein Verbrechen, auch nur das Geringste zu unternehmen, was diesen Krieg verlängern könnte, der Menschen mordet, Wohlstand vernichtet und das Wiederaufleben des Kampfes um Befreiung verhindert. Ich denke, dass wer einen »Krieg bis zum Äußersten« propagiert, in Wahrheit das Spiel der Regierenden in Deutschland betreibt, die ihre Untertanen täuschen und ihren Kampfesmut anstacheln, indem sie ihnen einreden, ihre Gegner wollten das deutschen Volk unterwerfen und knechten.

Jetzt, wie seit jeher, muss unsere Devise lauten: >Nieder mit den Kapitalisten und den Regierungen, allen Kapitalisten und allen Regierungen!< Und die Völker sollen leben, alle Völker! ...

[1] Veröffentlicht unter dem Titel »Pro-Government Anarchists« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 324 (April 1916). Der Übersetzung liegt die Wiedergabe des Artikels in der von Sébastien Faure herausgebenen Encyclopédie anarchiste unter dem Stichwort »Seize (le manifeste des)« zugrunde. Das komplette Stichwort wurde aus dem Französischen übersetzt von Michael Halfbrodt und findet sich in: Andreas Hohmann (Hg.): Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale. Lieh: Edition AV, 2014: 13–53. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Halfbrodt und Andreas Hohmann. Im Februar 1916 wurde eine Erklärung, das berühmt berüchtigte »Manifest der Sechzehn« veröffentlicht, in dem sich führende Anarchisten für eine Weiterführung des Krieges gegen das Deutsche Reich aussprachen, sei doch »die deutsche Aggression eine – in die Tat umgesetzte – Bedrohung nicht nur unserer Emanzipationshoffnungen, sondern der menschlichen Entwicklung schlechthin«. Die Verfasser, unter anderem Jean Grave, Peter Kropotkin und Charles Malato, wandten sich damit auch gegen eine anarchistische Erklärung aus dem Jahre 1915 – »Die anarchistische Internationale und der Krieg« -, in der sich gleichermaßen gegen sämtliche am Krieg beteiligten Mächte ausgesprochen worden war. Malatesta war einer der Unterzeichner letzterer Erklärung. Siehe zu alledem (auch die jeweiligen Texte) in: Ham Day: Das Manifest der Sechzehn (1933), in: Andreas Hohmann (Hg.): Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale. Lieh: Edition AV, 2014: 13–53.


Aus: Errico Malatesta: Anarchistische Interventionen – Ausgewählte Schriften (1892–1931)
Veröffentlicht unter dem Titel »Pro-Government Anarchists« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 324 (April 1916).