#title Der ökonomische Kampf im Kapitalismus #author Errico Malatesta #LISTtitle Ökonomische Kampf im Kapitalismus #SORTauthors Malatesta, Errico; #SORTtopics Syndikalismus; Gewerkschaft; Kapitalismus; Organisation; Arbeit; 1920-1929; 0riginal: Italienisch; #date 21. Oktober 1922 #source Entnommen am 29.08.2015 von [[http://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/errico-malatesta/170-errico-malatesta-der-oekonomische-kampf-im-kapitalismus][anarchismus.at]] #lang de #pubdate 2015-08-29T19:33:22 #notes Aus: Errico Malatesta – Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980. Das Original erschien in: Umanita Nova, 21. Oktober 1922. Die Syndikalisten sind der Ansicht, daß die Gewerkschaft, das heißt die Organisation, mit der die Arbeiter gegen die Habgier der Kapitalisten kämpfen und versuchen, ihnen ständig bessere Bedingung abzuringen, automatisch zur vollständigen Befreiung, zur gesellschaftlichen Umgestaltung, zu Freiheit und Gerechtigkeit für alle führt. Wir dagegen meinen, daß der ökonomische Kampf im Kapitalismus seiner Natur nach zur Spaltung des Proletariats in rivalisierende Fraktionen führt, von denen es einigen gelingt, sich das Monopol der besser bezahlten Arbeit zu sichern, während die anderen – der Großteil – weiterhin im Elend leben und ständig Arbeitslosigkeit, Knechtschaft und Hunger ausgesetzt sind. Dies führt schließlich dazu, daß das Regime sich konsolidiert, indem es eine große Anzahl der aktivsten und intelligentesten Arbeiter als Komplizen gewinnt: diese werden quasi unbewußt konservativ, aus Angst, die privilegierte Position aufs Spiel zu setzen, die sie durch oft langandauernde und große Opfer errungen haben. Und solange man auf rein ökonomischem Terrain bleibt, kann dies nicht verhindert, ja nicht einmal mißbilligt werden. Als Beispiel dafür mögen die Ereignisse unter den Hafenarbeitern dienen. Da es im kapitalistischen System trotz des nie aufhörenden Zwanges ständiger Produktionssteigerung stets tüchtige und arbeitswillige Menschen gibt, die gerne Arbeit finden oder diese nicht unter befriedigenden Bedingungen finden und man als Hafenarbeiter, von einer gewissen Muskelkraft abgesehen, keine besonderen Fähigkeiten noch eine lange Lehrzeit benötigt, sind in den Häfen oft mehr Arbeitskräfte vorhanden als für die vorhandene Arbeit erforderlich. Und so können Reeder, Händler und Makler von der Konkurrenz profitieren, die zwangsläufig unter den Hafenarbeitern und den Stellenbewerbern besteht und ihnen Hungerlöhne zahlen und Bedingungen aufzwingen, wie sie zur Zeit der Sklaverei herrschten. Eines schönen Tages kommt es den rebellischsten, klügsten und aktivsten Arbeitern in den Sinn, ihre Bedingungen zu verbessern. Sie sammeln die regulären, sozusagen mit diesem Beruf auf die Welt gekommenen Arbeiter um sich, organisieren sie, gründen Vereinigungen und Genossenschaften und können sich unter Ausnutzung günstiger Umstände das Monopol der Arbeit mit Löhnen sichern, die ein menschliches Leben ermöglichen. Die anderen, die Neuankömmlinge und später Hinzugekommenen bleiben ausgeschlossen und werden nur dann als Hilfsarbeiter arbeiten können, wenn überreichlich Arbeit vorhanden ist und es den Genossenschaftsmitgliedern gefällt, sie anzustellen. Was kann gegen dieses Monopol eingewandt werden? Die Freiheit der Arbeit? Das Recht aller auf Arbeit? Wir sehen, was geschieht, wenn man im System des Kapitalismus Freiheit fordert! Die Faschisten behaupten, daß sie diese Freiheit wollen. In Wirklichkeit wollen sie mit ihren Methoden brutaler Gewalt und mit Unterstützung der staatlichen Kräfte die bestehenden Organisationen zerschlagen, um den Kapitalisten einen Dienst zu erweisen oder das Monopol der anderen durch ihr eigenes zu ersetzen. Doch sehen wir, was geschehen würde, wenn wirklich diese „Freiheit der Arbeit“ eingeführt würde. Die Arbeitslosen, die gegenwärtig sehr zahlreich sind, würden in die Häfen eilen und ihre Arbeitskraft anbieten, während die Unternehmer die Gelegenheit nutzen und die Löhne senken würden. Wahrscheinlich würden die bereits arbeitserfahrenen, alten Hafenarbeiter weiterhin bevorzugt eingestellt werden, aber sie müßten sehr viel geringere Löhne hinnehmen. In jedem Fall gäbe es keinen Arbeitsplatz mehr als zuvor, denn die Arbeit würde wegen der „Freiheit“ nicht zunehmen und die, die arbeiten, würden zu den elenden Bedingungen zurückkehren, in denen sie sich befanden, als sie nicht organisiert waren. Was könnten wir oder die Syndikalisten unter diesen Bedingungen tun oder raten? Wir können das Monopol nicht billigen, wir können das Recht aller Arbeiter auf Arbeit nicht verleugnen. Und wir können auch nicht eine „Freiheit“ verteidigen, die sich in der Praxis auf eine noch schlimmere Knechtschaft reduziert! Also? Also ist klar, daß der legale ökonomische Kampf, der zwangsläufig die faktische Anerkennung des Eigentumprivilegs voraussetzt, eine Sackgasse ist. Es ist menschlich, daß der Arbeiter schon jetzt versucht, seine Bedingungen zu verbessern und zu diesem Zweck Mittel anwendet, die jeder Zeit in seinen Möglichkeiten liegen. Und dies ist auch im Hinblick auf die angestrebte völlige Befreiung gut, denn ein Mensch, der nicht das Unrecht empfindet, dessen Opfer er ist, oder sich ihm anpaßt und stillhält, dient weder sich selbst noch den anderen, weder heute noch morgen. Aber man darf auch vom Kampf für unmittelbare Verbesserungen nicht mehr erwarten, als dieser geben kann. Man darf nicht vergessen, daß dieser Kampf, der doch ein Kampf nur gegen die Unternehmer zu sein scheint und sein sollte, aufgrund der Notwendigkeit, den Arbeitslohn zu verteidigen, auch zum Kampf gegen die am meisten benachteiligten Arbeiter führt. Und daß er schließlich konservativ und zu einem Element der Reaktion werden kann, anstatt der Revolution und dem Fortschritt zu dienen, wie es bei vielen und gerade bei den mächtigsten Arbeitergewerkschaften der Fall war. Und deshalb müssen wir und mit uns alle Parteien des Fortschritts die Arbeiterorganisationen dazu benutzen, Propaganda zu betreiben und in den Arbeitern den Geist der Auflehnung gegen die Unternehmer zu wecken. In ihren Reihen müssen wir versuchen, soweit wie möglich die Interessen der organisierten Arbeiter mit denen der nicht organisierten in Einklang zu bringen und vor allem das Feuer des Ideals, das Fieber der Unzufriedenheit und der Unduldsamkeit in sie hineintragen. Alles in allem ist das Interesse stets konservativ, nur das Ideal ist revolutionär. Und diejenigen, die das Ideal über das Interesse stellen, sind es, die die Revolution bestimmen und bis zum Ende führen können.