#title Anarchie #author Elisée Reclus #SORTauthors Reclus, Elisée; #SORTtopics Anarchie, Moral, Rache, Liebe, Harmonie, Hass, Konkurrenz, Friede, Befriedung, Klassenkonflikt, Einführung in den Anarchismus #date 1884 #source Scan aus: Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt - herausgegeben und eingeleitet von Otthein Rammstedt [Westdeutscher Verlag - Köln Opladen 1969] #lang de #pubdate 2016-07-13T11:26:00 #notes Textnachweis von Otthein Rammstedt: "Die Abhandlung wurde 1884 für die englische Zeitschrift »The Contemporary Review« geschrieben und erlangte in anarchistischen Kreisen großes Aufsehen. Deutsch erschien der Artikel ohne Angabe des Übersetzers in »Der Sozialist«, 1912, Jg. 4, S. 66-68, 80-83, 93-95, 104-106. Die beiden letzten Teile werden hier, leicht gekürzt, wiedergegeben." Die Regierungen ersparen es sich, den Armen von Brüderlichkeit zu reden; sie quälen sie nicht mit einem so traurigen Spaß. Freilich vergleicht der Höflingsjargon in einigen Ländern den Herrscher mit einem Vater, dessen Kinder die Untertanen sind, auf die er den unerschöpflichen Tau seiner Liebe träufelt; aber diese Formel, welche die Hungrigen leicht mißbrauchen könnten, indem sie vom Vater Brot forderten, wird nicht mehr ernstgenommen. Solange die Regierungen als die unmittelbaren Statthalter eines himmlischen Herrn angesehen wurden, die ihr Amt von Gottes Gnaden verwalteten, war die Vergleichung am Platze; aber nur noch wenige erheben jetzt Anspruch auf diese Halbgöttlichkeit. Da sie der religiösen Weihe beraubt sind, halten sie sich nicht länger fürs Gemeinwohl verantwortlich und begnügen sich damit, lediglich gute Verwaltung, unparteiische Justiz und strenge Sparsamkeit in der Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten zu versprechen. Die Geschichte berichtet, wie diese Versprechungen gehalten worden sind. Keinem, der die Politik unserer Zeit ergründet, kann die Wahrheit der Worte entgehen, die in gleicher Weise Oxenstierna und dem Lord Chesterfield zugeschrieben werden: »Geh, mein Sohn, und sieh, mit wie wenig Weisheit die Welt regiert wird!« Es gehört jetzt der allgemeinen Bildung an zu wissen, daß die Herrschaft, gleichviel ob sie monarchisch, aristokratisch oder demokratisch ist, ob sie sich auf das Recht des Schwertes, der Erbfolge oder der Wahl gründet, von Menschen ausgeübt wird, die nicht besser und nicht schlechter als ihresgleichen sind, deren Stellung sie aber größeren Versuchungen aussetzt, übelzutun. Da sie über die Menge erhoben sind, die sie bald zu verachten lernen, kommen sie schließlich dazu, sich für von Haus aus höhere Wesen zu halten; da sie vom Ehrgeiz in tausend Gestalten, von Eitelkeit, Gier und Laune umworben sind, werden sie verdorben und zwar um so leichter, als ein Haufe eigennütziger Schmeichler immer auf der Lauer liegt, sich ihre Laster zunutze zu machen. Und da sie nun in allen Stücken überwiegenden Einfluß besitzen, da sie den mächtigen Hebel in der Hand halten, durch den der ungeheure Apparat des Staates — Beamte, Soldaten, Polizei — bewegt wird, muß sich jedes einzelne Versehen, jeder Fehler, jedes Verbrechen, das sie begehen, ins Unendliche wiederholen und im Wachstum immer schwerer wiegen. Es ist nur zu wahr: eine Anwandlung des Unwillens bei einem Herrscher, ein schiefer Blick, ein zweideutiges Wort kann über ganze Völker die Trauer bringen und Unheil für die ganze Menschheit in sich bergen... Aber können die Verwalter der Macht, die entweder von Gottes Gnaden oder durchs allgemeine Stimmrecht das erhabene Amt erhalten haben, Gerechtigkeit zu spenden, irgendwie für unfehlbar oder auch nur für unparteiisch erachtet werden? Kann man sagen, die Gesetze und ihre Ausleger zeigten gegen alle Menschen die ideale Billigkeit, wie sie in der Vorstellung des Volkes lebt? Sind die Richter blind, wenn der Reiche und der Arme vor sie treten — Shylock mit seinem mörderischen Messer und der Unselige, der im voraus ein Pfund seines Fleisches oder etliche Unzen seines Blutes verkauft hat? Halten sie immer die Waagschalen gleich für den Königssohn und die Bettlerbrut? Daß diese Beamten an ihre eigene Unparteilichkeit fest glauben und sich für das verkörperte Recht in Menschengestalt halten, ist ganz natürlich; jeder legt — manchmal, ohne es zu wissen — die besondere Moral seines Berufes an; aber Richter können ebensowenig wie Priester dem Einfluß ihrer Umgebung widerstehen. Ihr Sinn für das, was die Gerechtigkeit ausmacht, stammt von den Durchschnittsmeinungen der Zeit und wird unmerklich beeinflußt von den Vorurteilen ihrer Klasse. So ehrenhaft sie auch sein mögen, sie können nicht vergessen, daß sie zu den Reichen und Mächtigen gehören oder zu den weniger Glücklichen, die noch nach Privileg und Ehre unterwegs sind. Sie haben überdies eine blinde Verehrung für Präzedenzfälle und bilden sich ein, Bräuche, die von ihren Vorgängern ererbt sind, müßten Recht sein. Wenn wir jedoch die offizielle Rechtspflege ohne Vorurteil prüfen, wie viele Ungerechtigkeiten finden wir in den gesetzlichen Verfahren!... Indessen spielt das Gesetz ebenso wie die Religion nur eine untergeordnete Rolle in der gegenwärtigen Gesellschaft. Es wird nur selten angerufen, um die Beziehungen zwischen den Armen und den Reichen, den Mächtigen und den Schwachen zu regeln. Diese Beziehungen sind das Ergebnis wirtschaftlicher Gesetze und entstammen der Entwicklung eines Gesellschaftssystems, das sich auf die Ungleichheit der Bedingungen gründet. Laissez faire! überlaßt die Dinge sich selbst! haben die Schiedsrichter auf dem Kriegsschauplatz gesagt. Das Feld ist frei: zwar ist es mit Leichen bedeckt, zwar stampft der Eroberer über die Körper der Unterlegenen, zwar kommt durch Angebot und Nachfrage und die Verschwörungen und Monopole, zu denen sie führen, der größere Teil der Gesellschaft in die Sklaverei der wenigen, aber immerhin — überlaßt die Dinge sich selbst, so gehört es sich im ehrlichen Spiel!... Man mag sagen, was man will, die Sklaverei, für deren Abschaffung die Abolitionisten in Amerika so heldenmütig gekämpft haben, besteht in anderer Gestalt noch in jedem zivilisierten Lande weiter; denn ganzen Bevölkerungen ist nur die Wahl gelassen, entweder Hungers zu sterben oder Plackerei auf sich zu nehmen, die sie verabscheuen, und darum nur wählen sie die Mühsal. Und wenn wir die barbarische Gesellschaft, der wir angehören, ehrlich ansehen wollten, wie sie ist, müßten wir anerkennen, daß der Mord, wenn er auch in tausend trügerische und wissenschaftliche Formen verkleidet ist, noch wie in den Zeiten der primitiven Wildheit dem Leben der meisten Menschen ein Ende macht ... Wir dürfen sagen, daß die Führer der modernen Gesellschaft damit, daß sie die Menschen, die sie regieren — und für deren Schicksal sie hierdurch die Verantwortung übernommen haben —, durch Entbehrungen in Elend geraten, in Dürftigkeit sinken und durch Laster verderben lassen, moralisch Bankrott gemacht haben. Aber wo die Herren scheitern, können freie Menschen vielleicht ans Ziel kommen. Das Versagen der Regierungen ist kein Grund für uns, den Mut sinken zu lassen; es zeigt uns im Gegenteil, wie gefahrvoll es ist, andern die Hut über unsre Rechte anzuvertrauen, und bestärkt unsern festen Entschluß noch mehr, unsre eigene Sache in die eigene Hand zu nehmen. Wir gehören nicht zu denen, die durch die Praktik gesellschaftlicher Heucheleien, den Überdruß eines erniedrigten Lebens und die Ungewißheit der Zukunft in die Notwendigkeit geraten sind, sich — ohne den Mut zu einer Antwort zu finden — die düstere Frage vorlegen: »Verlohnt es sich zu leben?« Jawohl, uns dünkt das Leben lebenswert, aber nur dann, wenn es seinen Zweck hat — nicht persönliches Wohlergehen, nicht ein Paradies, weder in diesem noch in jenem Leben — sondern die Verwirklichung einer Sehnsucht, ein Ideal, das unser eigenes ist und unserm innersten Wesen entspringt. Wir streben der idealen Gleichheit zu, die Jahrhundert um Jahrhundert unterjochten Völkern wie ein himmlischer Traum vorgeschwebt ist. Das Wenige, was der einzelne unter uns tun kann, ist reicher Lohn für die Gefahren des Kampfes. Unter diesen Umständen ist das Leben gut, selbst ein Leben voller Leiden und Opfer — auch wenn ihm ein vorzeitiger Tod plötzlich ein Ende setzen sollte. Die erste Bedingung der Gleichheit, ohne die jeder andere Fortschritt reinster Spott wäre — das Bestreben aller Sozialisten ohne Ausnahme — ist, daß jedermann Brot hat. Hungernden von Pflicht, von Entsagung, von ätherischen Tugenden zu sprechen, ist nichts geringeres als Feigheit. Der reiche Mann hat kein Recht, dem Bettler vor seiner Tür Moral zu predigen. Wenn es wahr wäre, daß zivilisierte Länder nicht Nahrung genug für alle erzeugten, könnte gesagt werden, kraft der Konkurrenz des Lebens wäre das Brot den Starken vorbehalten und die Schwachen müßten sich mit den Krumen begnügen, die vom Tisch des Schmausenden fielen. In einer Familie, wo Liebe waltet, werden die Sachen nicht auf diese Weise geordnet; im Gegenteil erhalten da die Kleinen und Schwächlichen den ersten Anteil; aber es ist zuzugeben, daß Mangel die Hände der Gewaltigen stärker machen und die Mächtigen zu ausschließlichen Besitzern des Brotes machen könnte. Aber sind die Gesellschaften unsrer Zeit wirklich in diesen Engpaß getrieben? Im Gegenteil; gleichviel, was für einen Wert Malthus' Vorhersagungen für eine entfernte Zukunft haben mögen, daß in den zivilisierten Ländern Europas und Amerikas die Gesamtsumme der erzeugten oder gegen Industrieprodukte eingetauschten Lebensmittel mehr als groß genug für den Unterhalt des Volkes ist, das ist eine sichere und unbestreitbare Tatsache. Selbst in Zeiten teilweiser Mißernten brauchen bloß die Kornspeicher und Lagerhäuser ihre Tore zu öffnen, damit jeder einen genügenden Anteil erhält. Trotz Vergeudung und Verschwendung, trotz den ungeheuren Verlusten, die durch Hin- und Herfahren und Handelsgeschäfte in Lagerhäusern und Läden entstehen, ist immer genug da, um alle Welt reichlich zu nähren. Und doch gibt es welche, die Hungers sterben! Und doch gibt es Väter, die ihre Kinder umbringen, weil sie, wenn die Kleinen nach Brot schreien, ihnen keins geben können! Andere mögen ihre Blicke von diesen Greueln abwenden, wir Sozialisten sehen ihnen gerade ins Antlitz und suchen nach ihrer Ursache. Diese Ursache ist das Bodenmonopol, die Aneignung des Landes, das allen gehört, durch einige wenige. Wir Anarchisten sind nicht die einzigen, die das sagen: Der Ruf nach Gemeineigentum an Grund und Boden ist so laut geworden, daß ihn alle hören müssen, die nicht absichtlich ihre Ohren verschließen. Die Idee macht schnelle Fortschritte, denn das Privateigentum in seiner gegenwärtigen Gestalt hat seine Zeit gehabt, und die Geschichtsforscher bezeugen allenthalben, daß das alte römische Recht nicht identisch mit der ewigen Gerechtigkeit ist. Ohne Zweifel wäre es eitle Hoffnung, den Inhabern des Bodens, die mit den Vorstellungen der Kaste, des Vorrechts und des Erbrechts sozusagen vollgesogen sind, zuzutrauen, sie würden die brotspendenden Äcker freiwillig der Gesamtheit zurückgeben; den Ruhm werden sie nicht gewinnen, daß sie sich ihren Mitbürgern als Gleiche zugesellen; aber wenn die öffentliche Meinung reif ist — und sie wächst von Tag zu Tag — wird es umsonst sein, daß Einzelne sich dem einhelligen Willen des Volkes entgegenstemmen, und die Axt wird an die Wurzel des Giftbaumes gelegt werden. Das urbare Land wird wiederum dem Gemeinbesitz anheimfallen; aber es wird nicht mehr, wie es bisher geschehen ist, fast aufs Geratewohl von unkundigen Händen gepflügt und gesät werden, sondern die Wissenschaft wird uns bei der Wahl des Klimas, des geeigneten Bodens, der Kulturmethoden, der Düngemittel und der Maschinen behilflich sein. Die Landwirtschaft wird mit der nämlichen Voraussicht betrieben werden wie mechanische Kombinationen und chemische Experimente... Haben wir erst Brot für alle, so werden wir noch etwas Weiteres begehren — Gleichheit der Rechte; aber das wird dann bald durchgesetzt sein, denn wer es nicht nötig hat, sich vor seinen Mitmenschen zu bücken, um einen Happen zu ergattern, ist schon ihresgleichen. Die Gleichheit der Bedingungen, die — gibt es wirklich tolle Schreihälse, denen man es erst sagen muß? — die unendliche Mannigfaltigkeit der Menschennaturen nicht im mindesten antastet, begehren wir inständig und halten sie für unabweislich, denn sie ist der einzige Weg, auf dem wir zu einer wahrhaften öffentlichen Moral gelangen können. Ein Mensch kann nur dann wahrhaft moralisch sein, wenn er sein eigener Herr ist. Von dem Augenblick an, wo er zum Verständnis dessen, was gut und billig ist, erwacht, steht es bei ihm, seine eigenen Bewegungen zu lenken, in seinem Gewissen die Gründe seines Handelns zu suchen und einfach das Seine zu tun, ohne Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung. Indessen wird sein Wille unausbleiblich gekräftigt werden, wenn er andere Menschen, die sich wie er selbst von ihrem eigenen Willen leiten lassen, den selben Weg einschlagen sieht. Gegenseitiges Beispiel wird bald der Ethik eine Gemeinschaftsform schaffen, der sich alle ohne Mühe anschließen können; aber in dem Augenblick, wo Gebote, die durch gesetzliche Strafen erzwungen werden, an die Stelle der persönlichen Stimme des Gewissens treten, ist es mit der Moral zu Ende. Das besagt der Ausspruch des Heidenapostels: Das Gesetz ist der Vater der Sünde. Ja, noch mehr, es ist nichts andres als die Sünde selbst, weil es sich, anstatt sich an das bessere Teil des Menschen, an seine freie Ursprünglichkeit zu wenden, an sein schlechtestes Teil wendet — es herrscht durch Furcht. So liegt es jedem nahe, sich Gesetzen zu widersetzen, da er sie nicht gemacht hat, und seine persönlichen Rechte zu verteidigen, die auch die Rechte von andern sind. Man spricht oft von dem Gegensatz zwischen Rechten und Pflichten. Das ist hohles Gerede; es gibt keinen solchen Gegensatz. Jeder, der seine eigenen Rechte wahrnimmt, erfüllt damit seine Pflicht gegen seine Mitmenschen. Vorrecht, nicht Recht ist das Gegenteil der Pflicht. Außer der Verfügung über die eigene Person schließt die gesunde Moral noch eine andere Bedingung ein — gegenseitiges Wohlwollen, das ebenfalls aus der Gleichheit entspringt. Die von der Zeit geheiligten Worte des Mahabharata sind so wahr wie je: »Die Toren sind nicht die Freunde der Weisen; der Mann, der keinen Wagen hat, ist nicht der Freund dessen, der einen Wagen hat. Freundschaft ist die Tochter der Gleichheit; sie wird nie von der Ungleichheit geboren.« Ohne Zweifel ist es den und jenen Männern, die durch ihr Denken, durch Herzlichkeit oder durch Willensstärke hervorragen, gegeben, die Menge zu gewinnen; kommt jedoch die Gefolgschaft ihrer Anhänger und Bewunderer nicht von begeisterter Geistes- oder Herzensverwandtschaft, dann verwandelt sie sich rasch entweder in Fanatismus oder Kriecherei. Wer von den Zurufen der Menge als Herr begrüßt wird, muß sich fast mit Notwendigkeit außergewöhnliche Tugenden zuschreiben oder sich für »gottbegnadet« halten, so daß er in seiner eigenen Schätzung als Werkzeug der Vorsehung dasteht, und dann usurpiert er ohne Zaudern oder Gewissensbisse Vorrechte, die er seinen Kindern als Erbe hinterläßt. Während er aber an Rang erhöht ist, ist er moralisch gesunken, und seine Parteigänger und Speichellecker sind noch tiefer gesunken; sie warten auf die Worte des Befehls, die aus dem Munde des Herrn kommen; spüren sie in den Tiefen ihres Gewissens eine leise Regung des Widerspruchs, so wird sie erstickt; sie werden geübte Lügner, erniedrigen sich zur Schmeichelei und büßen die Gabe ein, ehrenhaften Männern ins Gesicht zu sehen. Zwischen dem, der befiehlt, und dem, der gehorcht und dessen Entwürdigung von Geschlecht zu Geschlecht ärger wird, ist keine Möglichkeit der Freundschaft. Die Tugenden haben sich gewandelt; brüderliche Offenheit ist verschwunden; Unabhängigkeit wird zum Verbrechen; oben ist mitleidige Herablassung oder hochmütige Verachtung, unten neidische Bewunderung und verstohlener Haß... Wir Anarchisten aber wollen uns nie von der Welt absondern, um eine kleine Kirche zu bauen, die irgendwo in der öden Wildnis verborgen ist. Hier ist der Kampfplatz, und wir bleiben in Reih und Glied, in Bereitschaft, unsere Hilfe überall da zu leisten, wo sie gebraucht wird. Wir hegen keine übereilten Hoffnungen, aber wir wissen, unsre Mühe wird nicht verloren sein. Viele von den Unwissenden, die uns jetzt entweder aus Liebe zum Hergebrachten oder aus Herzenseinfalt verfluchen, werden sich schließlich unsrer Sache anschließen. Auf einen Menschen, dem die Umstände erlauben, frei und rückhaltlos bei uns zu sein, kommen Hunderte, die von den harten Notwendigkeiten des Lebens gehindert werden, ihre Meinungen offen zu bekennen; aber sie lauschen von weitem und hegen unsre Worte in der Schatzkammer ihres Herzens. Wir wissen, daß wir für die Sache der Armen, der Enterbten, der Duldenden eintreten; wir suchen ihnen die Erde, persönliche Rechte, Vertrauen in die Zukunft wiederzugeben; ist es da nicht natürlich, daß sie uns mit Blick und Haltung ermutigen, auch wenn sie nicht wagen, zu uns zu kommen? Wenn aber Zeiten der Verwirrung hereinbrechen, wenn die eiserne Hand der Macht ihren Halt verliert und gelähmte Herrscher unter der Last ihrer eigenen Gewalt taumeln; wenn die »Formationen« für einen Augenblick des Druckes von oben ledig werden und sich nach ihrer natürlichen Verwandtschaft neu gestalten — auf welcher Seite werden dann die Vielen sein? Obwohl wir keinen Anspruch auf Prophetengabe machen, dürfen wir nicht ohne Verwegenheit getrost sagen, daß die große Menge sich unsern Reihen anschließen wird? Machen nicht sogar unsre Feinde, wenn sie gleich nicht müde werden zu wiederholen, der Anarchismus sei bloß der Traum von ein paar Schwärmern, durch die Schmähungen, die sie auf uns häufen, und die Pläne und Machinationen, die sie uns zutrauen, unausgesetzt Propaganda für uns? Man sagt, wenn die Magier des Mittelalters den Teufel zitieren wollten, fingen sie ihr Zauberwesen damit an, daß sie sein Bild an die Wand malten. Seit langer Zeit haben moderne Geisterbanner die nämliche Methode angewandt, um Anarchisten zu beschwören. In Erwartung des großen Werks der kommenden Zeit, und damit dieses Werk vollbracht werde, liegt es uns ob, jede Gelegenheit für Rat und Tat zu benutzen. Mittlerweile, obwohl es unser Ziel ist, ohne Regierung und ohne Gesetze zu leben, sind wir genötigt, uns in vielen Dingen zu unterwerfen. Wie oft indessen sind wir im Stande, unsern eigenen freien Willen durchzusetzen und uns nicht nach dem zu richten, was die Menschen auf Grund konventionellen Schlendrians von einander fordern? Auf keinen Fall werden wir die Autorität dadurch stärken, daß wir sie anrufen oder an sie petitionieren, und ebensowenig werden wir von uns aus zur Festigung der Gesetze dadurch beitragen, daß wir bei den Gerichtshöfen unser Recht suchen, oder dadurch Urheber unsres eigenen Unheils werden, daß wir irgendeinem Kandidaten unsre Stimme oder unsern Einfluß leihen. Leicht ist es auch für uns, von der Gewalt keine Dienste anzunehmen, niemanden Herrn zu nennen und uns nicht als Herren anreden zu lassen, als einfache Bürger in Reih und Glied zu bleiben und entschlossen, in jeder Lage uns als Gleiche unter Gleichen zu benehmen. Unsre Freunde mögen uns nach unsern Taten beurteilen und mögen die unter uns verwerfen, die keine Festigkeit haben. Es gibt unzweifelhaft viele wohlwollend gesinnte Menschen, die sich bis jetzt von uns fernhalten und unsre Bemühungen sogar mit einem gewissen Argwohn betrachten und die uns doch freudig ihre Hilfe leihen würden, wenn nicht die Furcht vor der Gewalttätigkeit sie zurückhielte, die fast unabänderlich im Gefolge der Revolution einhergeht. Und doch müßte eine gründliche Erforschung der gegenwärtigen Zustände ihnen zeigen, daß die angebliche Periode der Ruhe, in der wir leben sollen, in Wahrheit ein Zeitalter der Grausamkeit und Gewalttätigkeit ist. Nicht zu reden vom Krieg und seinen Verbrechen, deren Mitschuld kein zivilisierter Staat von sich wälzen kann, kann denn geleugnet werden, daß wesentliche Konsequenzen der bestehenden Gesellschaftsordnung Mord, Krankheiten und Tod sind? Die gewohnte Ordnung wird durch Taten der Roheit und brutale Gewalt aufrechterhalten, aber Dinge, die jeden Tag und jede Stunde geschehen, werden nicht beachtet, wir erblicken in ihnen eine Reihe ganz gewöhnlicher Ereignisse, die nicht außerordentlicher sind als der Lauf der Zeiten oder der Wechsel der Jahreszeiten. Es scheint geradezu ruchlos, sich gegen den Zyklus von Gewalttat und Unterdrückung aufzulehnen, der von dem Brauch und der Duldung der Jahrhunderte geheiligt ist. Weit entfernt, an die Stelle einer Ära des Glücks und des Friedens Zeiten der Unordnung und des Kriegs setzen zu wollen, ist unser einziges Ziel, der endlosen Folge des Elends ein Ende zu machen, die bisher, wie auf Grund allgemeinen Beschlusses, den Namen »Fortschritt der Zivilisation« hat führen dürfen. Andrerseits muß der ruhige und psychologische Betrachter der Geschichte und der Menschen die Tatsache erkennen, daß Taten der Rache unvermeidliche Begleiterscheinungen in einer Periode starker Wandlungen sind. Es liegt in der Natur der Dinge, daß sie nicht ausbleiben können. Obzwar Taten der Gewalttätigkeit, die durch den Geist des Hasses hervorgerufen werden, Zeugen einer zurückgebliebenen moralischen Entwicklung sind, werden diese Taten immer dann unausbleiblich und naturnotwendig, wenn die Beziehungen von Mensch zu Menschen nicht die vollkommener Gleichheit sind. Die ursprüngliche Form der Gerechtigkeit, wie sie primitive Völker verstanden haben, war die der Vergeltung, und Tausende von rohen Stämmen befolgen noch dieses System. Nichts schien gerechter zu sein als ein Unrecht durch ein gleiches Unrecht auszugleichen. Auge um Auge! Zahn um Zahn! Wenn das Blut eines Menschen vergossen worden ist, muß ein anderer sterben! Das war die barbarische Form der Justiz. In unsern zivilisierten Gesellschaften ist es Einzelnen verboten, die Justiz in die eigene Hand zu nehmen. Die Regierungen in ihrer Eigenschaft von Abgeordneten der Gesellschaft haben das Amt, im Namen der Gemeinschaft die Justiz durchzuführen, eine Art einer etwas gebildeteren Vergeltung als die des Wilden ist. Unter dieser Bedingung verzichtet der Einzelne auf das Recht persönlicher Rache; wenn er aber von den Vertretern, denen er die Durchführung seiner Rechte anvertraut, betrogen wird, wenn er bemerkt, daß seine Agenten seine Sache verraten und sich seinen Bedrückern verbünden, daß die offizielle Justiz das Unrecht, das er leidet, verschlimmert; mit einem Wort, wenn ganzen Klassen und Bevölkerungsschichten Unrecht angetan wird und sie keine Hoffnung haben, in der Gesellschaft, zu der sie gehören, einen zu finden, der die Mißbräuche abstellt, ist es nicht allzu wahrscheinlich, daß sie früher oder später ihr angeborenes Recht der Rache wieder an sich nehmen und es erbarmungslos ausüben? Ist das nicht in der Tat eine Fügung der Natur, eine Folge des physikalischen Gesetzes von Stoß und Gegenstoß? Es wäre unphilosophisch, von dieser Tatsache überrascht zu sein. Unterdrückung ist immer mit Gewalt beantwortet worden. Trotzdem, wenn es wahr ist, daß große Umwälzungen bei den Menschen immer von düsteren Ausbrüchen persönlichen Hasses begleitet waren, appellieren solche, die es mit dem Menschengeschlecht gut meinen, nicht an diese schlechten Triebe, wenn sie die bewegenden Kräfte der Begeisterung, der Hingabe und des Edelmuts hervorrufen wollen. Wenn Umwandlungen kein anderes Ergebnis hätten, als Bedrücker zu bestrafen, ihnen nun ihrerseits Leiden zuzufügen, Böses mit Bösem zu vergelten, dann wäre die Wandlung nur eine scheinbare. Was fruchtet es dem, der die Menschheit wahrhaft liebt und das Glück aller herbeiwünscht, daß der Sklave zum Herrn wird, daß der Herr zu Knechtschaft verdammt wird, daß die Peitsche die Hände wechselt und daß das Geld aus einer Tasche in die andere geht? Nicht den Reichen und Mächtigen weihen wir der Vernichtung, sondern die Einrichtungen, die Geburt und Wachstum dieser schlimmen Geschöpfe ermöglicht und begünstigt haben. Unsere Aufgabe ist, die Bedingungen zu ändern, und für dieses große Werk müssen wir all unsre Kraft aufsparen; sie in persönlicher Rache zu vergeuden, wäre reinste Kinderei. »Rache ist die Lust der Götter«, sagten die Alten; aber sie ist nicht die Lust von Sterblichen, die Achtung vor sich selbst haben; denn sie wissen, daß ihre eigenen Rächer zu werden nichts anderes bedeutete, als sie auf die Stufe ihrer früheren Bedrücker zu erniedrigen. Wollen wir auf eine höhere Stufe als die unsres Widersachers steigen, so müssen wir ihn, nachdem wir ihn überwunden haben, dahin bringen, daß er seine Niederlage segnet. Das revolutionäre Motto: »Für unsre Freiheit und für eure« darf kein leeres Wort bleiben. Die Menschen haben das zu allen Zeiten im Gefühl gehabt; und nach jedem zeitweiligen Triumph hat der Edelmut des Sieges die Drohungen der Vergangenheit ausgelöscht. Es ist eine immer bestätigte Tatsache, daß in allen Volksbewegungen, die um einer Idee willen entstehen, die Hoffnung auf eine bessere Zeit und vor allem das Gefühl einer neuen Würde die Seele mit hohen und großmütigen Gesinnungen füllt. Sowie die Polizei, die politische wie die bürgerliche, ihre Tätigkeit einstellt und die Massen auf den Straßen Herr werden, wird die moralische Luft eine andere, jeder fühlt sich für das Wohl und die Zufriedenheit aller verantwortlich; Belästigung von Individuen ist fast nicht mehr erhört; selbst gewerbsmäßige Verbrecher stellen ihr düsteres Handwerk ein, denn auch sie fühlen, daß etwas Großes durch die Atmosphäre geht. Ah! wenn die Revolutionäre, anstatt, wie es fast immer der Fall war, einer unbestimmten Idee zu gehorchen, ein bestimmtes Ziel, einen wohlüberlegten Plan für die Einrichtung der Gesellschaft ins Auge gefaßt hätten, wenn sie die Durchführung einer neuen Ordnung der Dinge fest gewollt hätten, in der jedem Bürger Brot, Arbeit, Unterricht und die freie Entfaltung seines Wesens verbürgt gewesen wäre, es wäre ohne Gefahr gewesen, alle Gefängnistore weit zu öffnen und zu den Unseligen, die sie eingesperrt hatten, zu sagen: »Geht, Brüder, und sündigt nicht mehr.« Stets sollten wir uns an das edlere Teil des Menschen wenden, wenn wir große Taten tun wollen. Ein Feldherr, der für eine schlechte Sache kämpft, spornt seine Soldaten damit an, daß er ihnen Beute verspricht; ein wohlwollender Mann, der auf ein edles Ziel ausgeht, ermutigt seine Genossen durch das Beispiel seiner eigenen Hingebung und Opferwilligkeit. Ihm ist der Glaube an seine Idee genug. Wie das Sprichwort sagt: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Was macht es aus, daß er als Schwärmer behandelt wird! Selbst wenn sein Unterfangen nur ein Traum wäre, kennt er nichts Schöneres und Holderes als das Verlangen, recht zu handeln und gutzutun; im Vergleich damit sind gemeine Wirklichkeiten für ihn nur Schatten, Gespenster, die nur ein Augenblicksleben führen. Aber unser Ideal ist kein Traum. Das weiß die öffentliche Meinung recht wohl; denn keine Frage beschäftigt sie angelegentlicher als die der Umgestaltung der Gesellschaft. Die Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Gibt es unter denkenden Menschen einen einzigen, der nicht auf die eine oder andere Art ein Sozialist wäre, d. h. der nicht seinen eigenen kleinen Plan für Änderungen in den sozialen Verhältnissen hätte? Selbst der Redner, der das Vorhandensein einer sozialen Frage lärmend in Abrede stellt, bestätigt mit tausend Vorschlägen das Gegenteil. Und die uns ins Mittelalter zurückführen möchten, sind nicht auch sie Sozialisten? Sie meinen, sie hätten in einer Vergangenheit, die nach modernen Ideen wieder aufgebaut werden soll, die Bedingungen sozialer Gerechtigkeit gefunden, die die Brüderschaft der Menschen für immer herstellen würde. Alle sind in Erwartung der Geburt einer neuen Ordnung der Dinge; alle fragen sich, einige mit Verdruß, andere mit Hoffnung, was der nächste Tag bringen wird. Er wird nicht mit leeren Händen kommen. Das Jahrhundert, das Zeuge so vieler großer Entdeckungen in der Welt der Wissenschaft gewesen ist, kann nicht zu Ende gehen, ohne uns noch größere Errungenschaften zu bringen. Technische Einrichtungen, die durch einen einzigen elektrischen Impuls den nämlichen Gedanken durch fünf Erdteile zucken lassen, haben unsre soziale Moral bei weitem überflügelt, die noch in vielerlei Betracht das Produkt gegenseitiger Feindseligkeit der Interessen ist. Die Achse ist verschoben; die Welt muß erschüttert werden, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Im Geist ist die Revolution fertig; sie ist schon Gedanke, ist schon Wille: es ist nur noch übrig, daß sie verwirklicht werde, und das ist nicht der schwierigste Teil des Werkes. Die Regierungen Europas werden bald die Grenzen der Ausdehnungsmöglichkeit ihrer Macht erreicht haben und werden ihren wachsenden Bevölkerungen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Die überschüssige Tatkraft, die sich in fernen Kriegen vergeudet, muß dann zu Hause zu tun finden — es sei denn, daß die Hirten der Völker in ihrem Wahnsinn den Versuch machen, wie sie es früher so oft getan haben, ihre Energien dadurch zu erschöpfen, daß sie Europäer gegen Europäer führen. Das ist wahr, auf diesem Wege können sie die Lösung der sozialen Frage hintanhalten; aber nach jeder Vertagung wird sie, schrecklicher als zuvor, wieder aufsteigen. Mögen Nationalökonomen und Staatslenker politische Verfassungen oder Lohnsysteme erfinden, in denen der Arbeitsmann der Freund seines Herrn, der Untertan der Bruder des Potentaten sein kann, wir, »fürchterliche Anarchisten«, die wir sind, kennen nur einen Weg, Frieden und Freundschaft unter den Menschen herzustellen: die Unterdrückung des Privilegs und die Anerkennung des Rechts. Unser Ideal ist, wie wir gesagt haben, das der brüderlichen Gleichheit, nach der alle schmachten, aber fast immer wie nach einem Traum; bei uns nimmt sie Gestalt an und wird konkrete Wirklichkeit. Das Leben gefällt uns nicht, wenn die Freuden des Lebens nur für uns allein sein sollen; wir protestieren gegen unser Glück, wenn wir es nicht mit Brüdern teilen können; es ist lieblicher für uns, mit den Verworfenen und Enterbten zu wandern als mit Rosen bekränzt bei den Gelagen der Reichen zu sitzen. Wir haben diese Ungleichheiten satt, die uns gegenseitig zu Feinden machen; wir wollen der Raserei ein Ende machen, die die Menschen immer zu feindlichen Zusammenstößen treibt und die nur aus der Knechtung der Schwachen durch die Starken in Gestalt der Sklaverei, Hörigkeit und Dienstbarkeit entspringt. Nach so vielem Haß verlangt es uns, einander zu lieben, und das ist der Grund, warum wir Feinde des Privateigentums und Verächter des Gesetzes sind.