Guerre au Paradis

Die Politik aus unseren Kämpfen verbannen

1. März 2010

Du willst den Staat zerstören, aber was willst du an seine Stelle setzen?“

Eine Leidensgenossin

Viele Menschen mögen den Staat nicht. Viele betrachten ihn dennoch als vollkommen unentbehrlich. Fast niemand mag die Bullen oder die Beamten, aber gleichzeitig scheint eine Welt ohne Bullen und Verwalter für die öffentliche Meinung unvorstellbar zu sein.

Wenn wir um uns herum über unsere Kämpfe und Ideen diskutieren, provozieren wir allzu oft eine ungesunde Erwartung: die Erwartung einer Lösung für die durch die gegenwärtige Gesellschaftsordnung verursachten Probleme. Die der „Kriminalität", der „Sicherheit", der Versorgung, der Infrastrukturen, der Produktion, der Transporte, der Energie; all diese Bereiche, welche von der Zivilisation erschaffen und sorgfältig von ihr aufgegliedert wurden, erfordern ebenso viele Spezialisten und Experten, welche die Wissenschaft der Verwaltung beherrschen.

Wohl oder übel befindet sich all das, was der Kapitalismus, die Industrie und die Technologie produziert haben, vor unseren Augen, bildet es den eingegrenzten Rahmen unserer Existenz. Unabhängig davon, ob uns dies gefällt oder nicht, müssen die Verwalter dieser Welt die Existenz jedes dieser Produkte nicht mehr rechtfertigen, seien es nun Kernkraftwerke, Rüstungsbetriebe, Eisenbahnnetze, Drahtzäune, Barrieren, Gefängnisse oder Flughäfen.

Die Passivität und die Stille – sicher relativ, denn nuanciert durch vielfache Widerstände – haben den Verteidigern der Gesellschaft eine zusätzliche Versicherung gegeben, und haben diese somit von der Notwendigkeit befreit, allzu genaue Erklärungen zu liefern über den „gesellschaftlichen Nutzen“ der Herrschaftsstrukturen und der sie begleitenden Schädlichkeiten. Die kapitalistische Mühle fand, in Zusammenarbeit mit dem Staat, in jeder Epoche ihrer Entwicklung so viele Hände, wie sie benötigte, um den Motor des Fortschritts anzutreiben; fand genügend Kraft, um den entschlossensten Widerstand zu beseitigen und genügend Tricks, um die partiellen Proteste zu integrieren.
Jeder besiegte Widerstand mündet in einem „frühen Morgen“ vollendeter Tatsachen: wir waren nicht in der Lage (oder nicht willens), die Entstehung dieser oder jener schädlichen Einwirkung zu verhindern, also ist die besagte Schädlichkeit da, und man muss jetzt mit ihr auskommen, sie verwalten.

Es ist auf diesem Feld, wo sich diejenigen Menschen (bewusst oder unbewusst) betätigen, die ihrem Kampf eine politische Optik aufsetzen, für welche die Devise „alles ist politisch“ bedeutet, dass auch wir Politik machen sollten. All das mit der unterschwelligen Idee, dass es ausreichen würde, die Politik den Spezialisten (den Politikern) – welche sie komplett für sich beanspruchen – zu entziehen, um ein mögliches Sprungbrett für die menschliche Emanzipation zu sein. Lauthals nach „Selbstverwaltung“ schreiend – gleichzeitig als Wundermittel für all unsere Probleme und als Hauptziel eines sogenannten libertären Kampfes – geht es dann nicht mehr darum, eine tiefgreifende Kritik gegen das zu formulieren, was uns am Leben hindert – mit der Perspektive, uns all dessen zu entledigen –, sondern viel eher um eine Diskussion, wie man die aktuellen Schädlichkeiten weniger schädlich macht. Hier preist man die Arbeiterkontrolle oder die Kontrolle durch die Basis, dort die Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder nochmal die Selbstentlohnung. Illustriert wird das alles mit unkritischen Verweisen auf die argentinische Bewegung im Winter 2001 , eine von mehreren maßgeblichen Referenzen.

Die Urheber einer „anderen Politik“, welche etwas frischer daherkommt und frei ist von Korruption, Wichtigtuern und – warum nicht – von Hierarchien, verteidigen auch die Möglichkeit, den Sinn der Politik umzukehren, deren Essenz und Funktion umzustürzen; die Politik, das Gebiet schlechthin der Trennung zwischen den Experten der Verwaltung und den Nichteingeweihten (Spezialisten der Delegation), müsste sich in einen Raum verändern, wo jeder SEINE (zwangsläufig alternative) Art und Weise verkaufen darf und sollte, die Probleme anzugehen und zu verwalten. Indem man die Errichtung der direkten Demokratie verkündet, würde die Rolle des Bürgers bis ans äußerste Ende gedrückt werden: als vulgärer symbolischer Hohlkopf in der „falschen repräsentativen Demokratie“ könnte der Bürger nun seine wahre Dimension annehmen und wahrhaftig seine Pflicht erfüllen, nämlich auf dem politischen Feld zu handeln, sich komplett und auf direktem Wege an der Verwaltung der Stadt zu beteiligen, also an der Verwaltung der Massen.

Da er für einen Abschied von dem Kapitalismus und dem Staat ohne signifikante Zusammenstöße eintritt, möchte der Kampf um Selbstverwaltung weder etwas von der Zerstörung als kreativer Leidenschaft hören, noch von der Möglichkeit für die Ausgebeuteten, ihre Ketten ein für alle Mal aufzubrechen. Ganz im Gegenteil neigt er dazu, den Schwerpunkt des Kampfes auf die Methode der Inbesitznahme zu legen. So machen die Angestellten der Selbstverwaltung des Existierenden sich eine Freude daraus, wenn sie brillante Antworten auf die immerwährende politische Frage haben: durch was werden wir den Staat ersetzen? Die Frage impliziert selbstredend formelle politische Strukturen. Auf diese Frage ist es recht leicht, eine Zahl von Schlagwörtern herunter zu leiern, die bereits bis auf den letzten Bluttropfen ausgesaugt worden sind, wie die spanische Revolution von [19]36, die regionalen Wirtschaftsräte, der Föderalismus, die "imperativen und jederzeit wiederrufbaren Mandate", ja sogar die Arbeiterräte für die nostalgischsten.

Das Problem ist also nicht mehr wirklich die Gesellschaft, deren Totalität es in die Luft zu sprengen gilt, das Existierende und die damit verbundenen Kohorten des Grauens, sondern die Art und Weise (kapitalistisch und staatlich, um es kurz zu sagen), wie sie verwaltet wird. Hat man einmal diesen politischen Rahmen akzeptiert, nimmt die einzige mögliche Diskussion über die Veränderung der Welt die Haltung eines Technikers an, d.h. die rationalistische Ideologie der Effizienz. Ein Rahmen der, und dies versteht sich von selbst, nicht wirklich bzw. gar keinen Platz lässt und keinen Willen zeigt für einen radikalen Bruch mit der Unterdrückung und seinen Ursachen: den sozialen Verhältnissen der Herrschaft und den physischen sowie ideologischen Strukturen, die sie bewahren und reproduzieren.
Mehr noch: da die Priester der „Politik ohne Staat“ glauben, dass „alles uns gehört“, bekommen diejenigen, welche die alte Welt an der Wurzel zerstören wollen, die gleiche Etikette verpasst, die sie bereits im aktuellen System tragen; die der Straftäter, der Provokateure oder bestenfalls der Abenteurer, die nichts von der Wissenschaft des revolutionären Prozesses verstanden haben. Kurz; Elemente, die (um)zuerziehen und zu zügeln sind, Kriminelle und dreckige Individualisten, Feinde des Volkes.

Man will bis ins kleinste Detail das Funktionieren der libertären Gesellschaft voraussehen, anstatt über die geeigneten Mittel nachzudenken, um die Zerstörung all dessen zu beschleunigen, was uns versklavt. Man sieht sich bereits jetzt in der Position von Ersatz-Spezialisten: als angehende Experten, die darauf warten, die alten auszuwechseln, welche das Vertrauen der Massen verloren haben, und, ob man es mag oder nicht, als radikale Reformer.

„Was gedenkt ihr, alternative Wasauchimmer, in Bezug auf die Atomkraft zu unternehmen?“

„Ihr, die nationale Dingsbums-Vereinigung, ihr habt sicher ein Programm, um die Arbeit und die Produktion zu organisieren, nicht wahr?“

„Und ihr, Blabla-Föderation, was schlagt ihr vor, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Auflösung der öffentlichen Dienste einzudämmen?“

Vielleicht werden diese Fragen mit diesen Begriffen gestellt und vielleicht akzeptieren diese politischen Organisationen es, eine Antwort zu geben, eben weil sie politisch sind, und weil die Politik, historisch und an sich, immer schon die Kunst der Verwaltung der Menschenmengen war, ist und sein wird, ob man diese ausgleichen oder hierarchisch organisieren möchte; die Kunst, eine Stadt (auf Griechisch Polis) zu leiten, wird, solange diese nicht zerstört wird, immer wieder dieselben Probleme hervorrufen, welche zwangsläufig mit dieser massiven sozialen Organisation verbunden sind: Entpersönlichung, Aufopferung des Individuums für die Gemeinschaft, Verantwortungslosigkeit, Trennung, Vertretung, Kontrolle, Repression. In einem Wort: Macht.

Daher dieses sehr spezielle Verhältnis, das die Liebhaber der Politik mit den Massen pflegen, eine stets gespaltene Beziehung, welche als Voraussetzung für jede Offensive nicht nur Überzeugung verlangt, sondern auch einen gewissen Populismus vermischt mit dem quantitativen Imperativ, also die Besessenheit einer quasi-totalitären Einheit. Voraussetzungen, die nicht einmal mehr bloße Vorwände zur abwartenden Haltung sind, sondern das wirkliche Bild von dem, was die politische Plage ist: die Verwandlung der Individuen in Arbeiter und Bürger, der menschlichen Beziehungen in technische Probleme, des Lebens in strategische Kalküle, der Wut und der Gefühle in Geduld und ewige Verdrängung. Eine Plage, die aus den Programmen von heute die Normen von morgen macht.

Für diejenigen, die sich danach sehnen, mit dieser autoritären Gesellschaft zu brechen und ihr keine Chance zu lassen, wieder auf den noch lauwarmen Aschen aufzublühen, für diejenigen kann es nicht darum gehen, über eine „andere Bildung“ nachzudenken, darüber, „was wir mit den Abwegigen tun werden“ oder über die Modalitäten einer Selbstverwaltung des Rungis [größter Großmarkt derWelt in Paris]. Mit anderen Worten: wir beabsichtigen nicht nur mit dem Staat zu brechen, sondern mit der Kontrolle im Allgemeinen, mit der Politik.

 


Die Erstürmung des Horizonts Nr.1
Originaltitel: "Bannir la politique de nos luttes", in: Guerre au Paradis, Nr. 1 , März 2010.