Max Schütte

August Reinsdorf und die Niederwald-Verschwörung

1902

      Vorwort

      August Reinsdorf und die Niederwald-Verschwörung

Eine geschichtliche Schilderung des geplanten Attentats gegen den kaiserlichen Hofzug am 28. September 1883, dem Prozess und die Hinrichtung der Verurteilten.

Vorwort

Nachstehende kurze Schilderung ist in Artikelform im „Neuen Leben“ erschienen. Die Geschichte von August Reinsdorf und der Niederwald-Verschwörung ist nicht nur lehrreich nach verschiedenen Seiten hin, wie der Verfasser zum Schlüsse treffend sagt, sie ist auch geeignet, auf die Tätigkeit der politischen Polizei ein gewisses Licht zu werfen. Diese Institution, welche von allen freiheitlich gesinnten Menschen als eines der unwürdigsten und schmählichsten Hilfsmittel der Reaktion betrachtet werden muss, bediente sich gewisser Subjekte, deren Beruf es ist, unter der heuchlerischen Maske des Genossen ihre Opfer dem Zuchthause und dem Henker zuzuführen. Die Zeit des Ausnahmegesetzes hat in dieser Beziehung eine grosse Anzahl von Fällen aufzuweisen, in welchen es nachgewiesen ist, dass Beamte der politischen Polizei teils selbst, teils durch ihre Spitzel die Rolle des agents provocateurs erfolgreich spielten.

Wenn in dieser Schrift auch die direkte Lockspitzelei eines der dabei beteiligten Polizeibeamten nicht nachgewisen werden kann, so liessen doch die Prozessverhandlungen den Schlussfolgerungen weitesten Spielraum. Der Prozess Tausch-Leckert-v. Lützow hat uns auch in neuerer Zeit geradezu einen Abgrund von Verworfenheit gewisser politischer Beamten gezeigt; andere politische Prozesse nicht minder, und in dem Prozess gegen Landauer, wegen der Beteiligung des Kommissars Gottschalk, war es auch nicht möglich, das mystische Dunkel, welches über das Verhältnis des Gottschalk zu dem Lockspitzel Palm lagert, aufzuhellen.

Die Institution der politischen Polizei ist eine Schmach unserer Zeit, und wenn dieses Schriftchen auch nur mitgeholfen hat, den Abscheu gegen diese Einrichtung zu verstärken, so hat sie ihren Zweck erfüllt.

Der Herausgeber

August Reinsdorf und die Niederwald-Verschwörung

Der 7. Februar ist der Todestag eines Mannes, der in der revolutionären Geschichte Deutschlands eine grosse Rolle gespielt hat. Am 7. Februar 1885 legte August Reinsdorf in Halle mutig sein Haupt auf den Block, nachdem ihm ein Anschlag missglückt war, der im Falle seines Gelingens die unabsehbarsten Folgen gehabt haben würde. Noch ist an der Niederwald-Verschwörung vieles nicht aufgeklärt, doch wirft auch das, was wir wissen, ein helles Licht auf die Zustände.

Als 1878 das Sozialistengesetz beschlossen wurde, ahnten Fürst Bismarck und seine Leute nicht, dass einerseits die Sozialdemokratie, welche sie zu vernichten trachteten, es siegreich überwinden und aus ihm mit gewaltig verstärkter Kraft hervorgehen würde, und dass andererseits unter dem Gesetze und zum Teil infolge seiner der Anarchimus, der bis dahin in Deutschland kaum eine nennenswerte Rolle gespielt hatte, eine Macht werden würde. Sein Zunehmen zeigte sich bereits in dem Hochverratsprozesse gegen Breuder und Genossen, der im Oktober 1881 vor dem Reichsgerichte in Leipzig verhandelt wurde. Eine Anzahl Berliner und Frankfurter Sozialisten und Anarchisten, sowie der mit Most in Verbindung stehende Belgier Victor Dave sassen damals wegen Verbreitung revolutionärer Schriften und dergl. auf der Anklagebank, und zum Teil wurden sie zu schweren Freiheitsstrafen verurteilt.

Dabei entrollte sich ein widerwärtiges Bild von der Lockspitzelei, die besonders unter Sozialistengesetze gross gezogen war. Subjekte verächtlichster Art, wie der Schneider Horsch, waren die Werkzeuge, deren sich namentlich der Polizeirat Rumpf in Frankfurt a.M. bedient hatte, um ehrlichen, wenn auch radikal gesinnten Männern Fallen zu stellen. Gar zu gern hätte er damals schon einen Mann auf die Anklagebank gebracht, den er und viele andere als den wahren Vater des Anarchismus in Deutschland betrachteten. Dieser Mann, mit dem wir uns hier näher beschäftigen wollen, war Reinsdorf.

Friedrich August Reinsdorf wurde am 31. Januar 1849 von einfachen Leuten in Pegau in Sachsen geboren. Er besuchte die dortige Volksschule und zeichnete sich durch gutes Gedächtnis und grosse Lernbegierde aus. Er erlernte das Setzerhandwerk und durchzog wandernd einen grossen Teil Deutschlands, wie ihm überhaupt ein gewisser Hang zur Unstätigkeit eigen war. Durch private Studien erwarb er sich einen ansehnlichen Grad von Kenntnissen, und damit wuchs in ihm ein glühender Hass gegen die sozialen und politischen Zustände, u. a. gegen die Gewaltpolitik Preussens.

Hauptsächlich dieser Preussenhass veranlasste ihn 1870 sich dem Kriegsdient gegen Frankreich zu entziehen. In der Schweiz liess er sich nieder und trat fortan häufig in sozialdemokratischen Versammlungen als Redner auf, wurde dann aber durch seinen Kollegen Emil Werner für die Ideen Bakunins und die Propaganda der Tat gewonnen. Als Bakunin 1876 in Bern gestorben war, hielten seine Anhänger hier einen Kongress ab, zu dessen Delegierten auch Reinsdorf gehörte. Im folgen Jahre kehrten er und Werner nach Deutschland zurück.

Mit Rücksicht auf die vielen Verfolgungen führte Reinsdorf oft falsche Namen und nannte sich meist Steinberg oder Bernstein. Unter letzterem Namen arbeitete er in Leipzig und war hier bald als Anarchist verrufen, zumal er oft in sozialdemokratischen Versammlungen seine radikalen Anschauungen hören liess. Damals fand er nur wenig Anhänger, und zu diesen soll auch der unglückliche Hödel gehört haben, über dessen Attentat man freilich geteilter Ansicht sein kann. Im allgemeinen wurde Reinsdorf von der Sozialdemokratie aufs schärfste angefeindet und oft als Spion verdächtigt, womit ihm allerdings das entschiedenste Unrecht geschah. Er war jetzt ein hoher Zwanziger, von mittlerer Grösse, breitschulterig, sonst aber mager gebaut, mit blassem Gesicht, rötlichem Bart und unstätem Blicke. Eine bedeutende Redegabe war ihm eigen, und besonders auf junge, unerfahrene Männer wusste er einen grossen Eindruck zu machen. Ferner führte er eine gewandte Feder und verstand es namentlich, mit feiner Satire die herrschenden Zustände zu beleuchten.

In hohem Grade war er fleissig, enthaltsam und opferwillig. Eine heisse Liebe zum Volke beseelte ihn, doch ebenso gross war sein leidenschaftlicher Hass gegen die Reichen und Mächtigen. Ein wahrer, überzeugter Fanatiker, erwartete er nur vom gewaltsamen Umsturz Besserung der Lage und war in der Wahl der Mittel dazu so wenig ängstlich, dass es ihm gleichgültig war, Schuldige wie Unschuldige, die im Wege standen, zu zerschmettern.

Bekanntlich wehrte sich die Sozialdemokratie nach den Attentaten von 1878 energisch gegen jede Mitschuld an denselben, während Reinsdorf und Genossen ganz offen Revolution und Königsmord verteidigten. Unter dem Ausnahmegesetz fühlte er sich in Leipzig von den polizeilichen Verfolgungen zu sehr belästigt und ging wieder in die Schweiz. Hier trat Johann Most während eines kurzen Aufenthaltes in Freibrug mit ihm in Verbindung und gewann ihn als Mitarbeiter für die damals in London erscheinende „Freiheit“. Reinsdorf schrieb fortan viel für dieselbe, u.a. theoretische Abhandlungen über den Anarchismus. Ob er aber auch Most in seine Attentatspläne eingeweiht hat, wie letzterer behauptet hat, ist fraglich. Jedensfalls war Reinsdorf fortan für Mosts Sache gründlich tätig.

Mosts letzter Versuch, sich mit der sozialdemokratischen Fraktion Deutschlands auszusöhnen, scheiterte, und auf dem Kongresse zu Wyden im Sommer 1880 wurden er und Hasselmann aus der Partei ausgeschlos sen. Fortan herrschte die wütendste Fehde zwischen der „Freiheit“ und dem in Zürich erscheinenden „Sozialdemokrat“, und in letzterem wurde denn auch Reinsdorf als Spion hingestellt, und sein Name prangte auf der schwarzen Liste der Sozialdemokratie.

Sein Aufenthalt in der Schweiz war übrigens von nicht langer Dauer. Eine Anklage wegen eines schweren Verbrechens an einem Kinde wurde gegen ihn erhoben, und da Reinsdorf die Parteilichkeit der Gerichte nur zu gut kannte, zog er es vor, die Schweiz zu verlassen. Später wurde er in contumaciam zu 3 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt, doch geht daraus, dass die bayerischen Behörden seine Auslieferung verweigerten, zur Genüge hervor, dass der ganze Prozess nur eine Mache war, um ihn zu vernichten.

Das schwere Unrecht, das ihm somit geschehen war, trug natürlich dazu bei, seinen Hass und Fanatismus zu steigern. Unter dem Namen Gfeller liess er sich in Berlin nieder und soll hier geplant haben, das Reichstagsgebäude mit allen seinen Insassen in die Luft zu sprengen, den Polizeipräsidenten V. Madai zu ermorden und dergl. Durch den Lockspitzel Neumann, von dem sich auch Most umgarnen liess, wurde er verraten und geriet in Haft. Man fand ein scharfes Dolchmesser bei ihm, doch konnte ihm kein Attentatsplan nachgewiesen werden, und so kam er mit einigen Monaten Gefängnis wegen Führung eines falschen Passes, Vergehens gegen das Sozialistengesetz u.a. davon.

Nachdem er dieselben verbüsst hatte, wurde er 1881 aus Berlin ausgewiesen, ebenso bald darauf aus Leipzig und wechselte jetzt häufig den Wohnsitz, weilte u.a. in München, in Belgien, in Frankreich und England. Überall wurde er mit polizeilichen und gerichtlichen Verfolgungen reichlich bedacht und lernte dabei einsehen, was es mit der Freiheit in der französischen Republik auf sich hat, war doch die Behandlung politischer Gefangener in den dortigen Gefängnissen ganz besonders unwürdig. Scharf sprach er sich darüber in der „Freiheit“ aus.

In London hatte er Beziehungen zu Josef Peuckert. Der Charakter des letzteren ist ja nicht völlig aufgeklärt, doch ist nicht unmöglich, dass Reinsdorf sich hierbei die Spionage in erhöhtem Masse auf den Hals lud.

Seine Gesundheit begann jetzt immer mehr zu wanken, und die Proletarierkrankheit macht bei ihm gefährliche Fortschritte. Da wollte er denn nicht aus dem Leben scheiden, ohne noch einen kühnen und schweren Schlag gegen die Gesellschaft geführt zu haben. So kehrte er 1883 nach Deutschland zurück und liess sich unter dem Namen John Penzenbach im Wuppertale nieder, wohl in der Hoffnung, unter der dortigen, besonders stark proletarisierten und politisch leicht erregbaren Arbeiterbevölkerung die passendsten Gehilfen zu finden.

Mit seinem Kollegen Emil Küchler, einem ihm ergebenen, aber beschränkten und ungeschickten Manne, erhielt er Arbeit beim Amtsblatt zu Elberfeld. Der Spott des „Sozialdemokrat“, der von ihm doch endlich königsmörderische Handlungen forderte, musste ihn in seinem Vorhaben bestärken. So sammelte er Anhänger und hielt mit ihnen Besprechungen ab im Hause des Webers Weidenmüller, des Schuhmachers Holzhauer und des Webers Palm. Letzterer stand im Dienste des Polizeikommissars Gottschalk, und es unterliegt daher wohl keinem Zweifel, dass bei Reinsdorfs Anschlägen von vornherein Spionage im Spiel war.

Sie nun hauptsächlich hat bewirkt, dass viel von den Hergängen unaufgeklärt geblieben ist. Wir müssen uns in unserer Darstellung auf das beschränken, was durch die Verhandlungen ans Tageslicht gekommen ist. Dynamit wurde beschafft und im Walde bei Weidenmüllers Wohnung vergraben. Reinsdorf soll zuerst geplant haben, am Sedanfeste eine Explosion herbeizuführen, aber davon Abstand genommen haben, weil dadurch zu viele Unschuldige gefährdet würden. Nach anderen Angaben trat er aus solchen Gründen von einem Anschlage auf den Konversationssaal zu Wiesbaden zurück.

Den ersten energischen Streich beschloss er für den 4. September in Elberfelder Restaurants, wo die Bourgeoisie verkehrte, und beauftragte den Weber Bachmann mit der Ausführung. Ausgerüstet mit einer Blechbüchse, die mit Dynamit und Bleikugeln geladen war, betrat dieser zuerst die Frankfurter Bierhalle, sah aber, dass er dort wegen Überfüllung nichts unbeachtet beginnen konnte, und suchte daher das Willemsensche Kasino, wo gerade ein Ärzteverein tagte, auf. Hier gelang die Explosion, hatte aber keinen weiteren Erfolg, als dass ein Loch in den Fussboden geschlagen, und dass der Kellner, der eben Bachmann Bier brachte, durch den Luftdruck niedergeworfen wurde, machte auch nur geringes Aufsehen, da die meisten Zeitungen das ganze Attentat – vielleicht nicht ganz mit Unrecht – nur als groben Unfug hinstellten.

Bachmann wurde von Reinsdorf mit Geld versehen und flüchtete nach Luxemburg. Am 8. September wurde Reinsdorf mit einer Verletzung am Schienbein ins St. Josefshospital aufgenommen. Nach seiner Angabe war er beim Überschreiten eines Schienengleises gestürzt, doch tauchte später die Behauptung auf, er habe sich die Wunde beim Probieren eines Explosivstoffes zugezogen. Und während er hier krank lag, reifte in ihm der gewalttätigste Plan seines Lebens.

Am 28. September sollte auf dem Niederwalde das von Schilling geschaffene Nationaldenkmal, die Kolossalstatue der Germania, in Gegenwart des deutschen Kaisers, des Kronprinzen, vieler Bundesfürsten, Bismarcks u.a. enthüllt werden. Da nun trachtete Reinsdorf danach, gegen das Denkmal oder die Fürstenversammlung oder gegen beide zugleich einen Dynamitanschlag ins Werk zu setzen, ein Plan, der bei seinem Gelingen von der unberechenbarsten Tragweite sein konnte. Durch Küchler, der ihn zuweilen besuchte, liess er den jungen, noch sehr unreifen, an einigem Grössenwahn leidenden Sattlergesellen Franz Rupsch an sein Lager rufen und weihte sie beide in den Mordplan ein. Rupsch sollte die eigentliche Ausführung übernehmen, Küchler ihn überwachen und ihm Beihilfe leisten. So unheimlich war Reinsdorfs Macht über sie, dass sie keinen Augenblick zauderten, den Auftrag zu übernehmen, obwohl sie darauf gefasst sein mussten, dass ihnen das Schaffot bevorstand.

Mit Anderen aus ihrem Kreise besprachen sie das weitere. Holzhauer besorgte das Dynamit, Küchler die Zündschnur, doch entgegen Reinsdorfs Auftrag keine wasserdichte Bickfordsche Kautschukschnur, sondern, um 50 Pfennig zu sparen, nur eine geteerte Hanfschnur. Und an letzterem Umstande soll das ganze Attentat gescheitert sein. Freilich wird dies unwahrscheinlich, wenn wir erwägen, dass Palm zur Reise der beiden 40 Mark beisteuerte, die tatsächlich aus dem Polizeifonds stammten. Auch ist wohl sicher, dass das Quantum Dynamit, dass sie mitnahmen, schwerlich zum Gelingen eines derartigen Werkes ausgereicht hätte.

Am 25. September fand die letzte Beratung statt. Tags darauf reisten Küchler und Rupsch nach Assmannshausen, am 27. nach Rüdesheim. Hier kehrten sie in einer Weinwirtschaft ein und legten das Dynamitpäckchen auf einen Schrank, gingen dann zum Niederwalde und rekognoszierten das Terrain. Ihr ursprünglicher Plan, das Dynamit unter dem Denkmal anzubringen, konnte nicht ausgeführt werden, weil noch am Sockel des letzteren gearbeitet wurde. So beschlossen sie, den Anschlag gegen den kaiserlichen Extrazug zu richten und erkoren eine Stelle, wo der Schienenstrang nahe an den Wald reichte. Ein Wasserdurchlass schien geeignet, das Dynamit aufzunehmen. Nach Rüdesheim zurückgekehrt, nahmen sie das Päckchen an sich, gingen gegen Abend wieder an Ort und Stelle und bargen es in jenem Durchlasse. Dass dieser genügend Raum dazu bot, beweist, wie klein das Quantum war. Selbst wenn die Explosion eingetreten wäre, so hätte sie wohl nur eine starke Erschütterung des Zuges, schlimmstenfalls eine Entgleisung herbeigeführt, schwerlich aber den Zug in die Luft gesprengt. Und dass Reinsdorf die Beiden nicht über die nötige Sprengmasse unterwiesen haben sollte, ist unwahrscheinlich.

Sie führten die Zündschnur durch den Graben, der das Geleise von der Waldgrenze trennte, in den Wald hinein, legten ihr Ende um einen Baumstamm und bedeckten sie mit Laub und Erde. In einen anderen Stamm machte Rupsch einen Messerschnitt, um die Stätte wiederzufinden. Sie beachteten nicht, dass ein feiner Regen fiel, durch den angeblich die Zündschnur erweicht und untauglich gemacht wurde. Angeblich, denn an Unwahrscheinlichkeiten fehlt es gerade nicht. Die ganze Ausführung soll soweit geglückt sein, obwohl doch in der Regel beim Kommen von Fürstlichkeiten die Polizei, wie geheime, aufs sorgsamste tätig ist und damals doch sicher wusste, dass Reinsdorf von Elberfeld aus wirkte, und dass Küchler und Rupsch zu seinen intimsten Gefährten gehörten. Sie verbrachten die Nacht in Rüdesheim, kehrten am Morgen des 28. zum Niederwalde zurück und fanden die ganze Vorrichtung wohlerhalten – trotz aller Polizei.

Das klingt wieder etwas auffallend.

Der Zug nahte. Wie es heisst, gab Küchler das Zeichen, Rupsch legte die Zigarre an die Schnur, und – alles blieb vergeblich. Kein Knall ertönte, und bald verkündete lautes Hurrahgeschrei und das Spielen der Nationalhymne, dass der Kaiser wohlbehalten am Ziele angelangt war. Mit Bestürzung gewahrten sie, dass die durchnässte Schnur kein Feuer gefangen hatte, gaben aber noch nicht alle Hoffnung auf, sondern entzündeten bei der Rückfahrt des Kaisers die Schnur an einer trockenen Stelle. Diesmal erglimmte sie, jedoch nur auf wenige Zentimeter und begann dann zu verkohlen.

Da nun verlor Rupsch völlig den Mut und widersetzte sich Küchlers Vorschlag, ein Attentat gegen das Theater in Wiesbaden, wo der Kaiser der Festvorstellung beiwohnen wollte, auszuführen. So entfernten sie das Dynamit, was merkwürdigerweise wieder völlig unbemerkt gelungen sein soll, und setzten nur noch einen Anschlag gegen die Festhalle in Rüdesheim in Szene. Wunderbarer Weise soll hier dieselbe Schnur, die vorhin zweimal versagt hatte, funktioniert haben, doch wurde nur eine Wand beschädigt, eine Anzahl Gläser und Flaschen zertrümmert, zwei Männer niedergeworfen ohne weiteren Schaden zu nehmen, und – der wunderschöne Kalbsnierenbraten ungeniessbar gemacht. Das war das gesamte Resultat der Niederwaldverschwörung.

In niederschlagendster Stimmung kehrten die Beiden nach Elberfeld zurück. Wir können uns denken, mit welch atemloser Spannung Reinsdorf auf seinem Krankenlager die Nachricht von einem grossen Attentate erwartet hatte, und wie masslos bestürzt er war, als nichts davon verlautete. Und als nun die Beiden bei ihm erschienen, und ihm de- und wehmütig das Scheitern berichteten, rief er aus: „Das kann auch nur mir passieren!“, behandelte sie aber mit einer gewissen Grossmut, während Holzbauer sich kaum fassen konnte.

Am 23. Oktober wurde Reinsdorf aus dem Lazaret entlassen, begab sich in die Frankfurter Gegend und soll sich dort mit weiteren Anschlägen getragen haben. Zugeschrieben wurde ihm u.a. eine Explosion im Frankfurter Polizeigebäude. Durch dieselbe wurde kein Mensch gefährdet, denn seltsamer Weise hatten gerade alle die Räume verlassen, auch war das Haus so gut versichert, dass der Nutzen den Schaden überwog. In Anbetracht der Machinationen, die Rumpf durch seine Lockspitzel oft ins Werk gesetzt hatte, liegt der Gedanke an eine Komödie nahe.

Reinsdorf, dessen Gesundheit immer mehr abnahm, reiste im Winter nach Hamburg, um ins Ausland zu gehen, wurde aber am 11. Januar 1884 auf Rumpf Betreiben verhaftet. Vergeblich suchten ihn die Beamten zu Eingeständnissen zu bewegen. Auf die Frage: „Herr Reinsdorf, was haben sie zu diesem oder jenem zu sagen?“ versetzte er regelmässig mit feinem Lächeln: „Der Herr Reinsdorf hat Ihnen garnichts zu sagen.“

Aber schon hatten die Behörden genügendes Material in Händen, um ihm und seinen Verbündeten den Prozess zu machen. Wie die ersten Aussagen entstanden sind, darüber hat die Polizei wohlweislich Stillschweigen beobachtet. Dass nur durch prahlerisches Ausplaudern seitens Eingeweihter sowie durch einen Brief Bachmanns aus Luxemburg, der bei einer Haussuchung gefunden sein soll, die Sache an den Tag gekommen wäre, ist ganz unwahrscheinlich, zumal wenn wir bedenken, dass Spionage im Spiele gewesen war.

Genug, die meisten Beteiligten wurden verhaftet und Bachmann an Deutschland ausgeliefert. Er soll darauf völlig den Kopf verloren und alles, was er wusste, an Gottschalk berichtet haben. Vorsichtshalber liess letzterer die meisten Verhafteten pro forma auf einige Tage frei, um sie sicher zu machen und nur noch schärfer zu beobachten. Sie gingen in die Falle, trafen eingehende Besprechungen und lieferten der Polizei damit unbewusst Material in die Hände.

Weidenmüller flüchtete nach Amerika, nachdem er brauchbare Eingeständnisse gemacht hatte, und ist dort verschollen, vermutlich weil man nach ihm nie allzu energisch gesucht hat. Die übrigen wurden bald von neuem verhaftet, und nun machte Rupsch allzu kopflos und übereilt die weitgehendsten Geständnisse, veranschaulichte auch, zum Niederwald geführt, die ganze Situation. Das meiste stimmte, und nebst anderem Material wurde auch der inzwischen abgehauene Baumstamm mit dem Messerschnitt aufgetrieben. Nur behauptete er, um sich zu retten, er habe das Attentat vereitelt, indem er die Zündschnur erst mit einer kalten Zigarre berührte und nachher durchschnitt.

Allmählich drang immer mehr über das Attentat in die Öffentlichkeit, namentlich seitdem Eugen Richter im Reichstage die Sache vorgebracht hatte. Es muss hervorgehoben werden, dass längere Zeit viele Blätter Zweifel an der Richtigkeit laut werden liessen, und dass bald Vermutungen auftauchten, die Verschwörung sei nichts weiter als Polizeimache gewesen. Freilich, dass Reinsdorf und mancher seiner Genossen ein ehrlicher Fanatiker war und mit dem Attentat einen ernsten Schlag geplant hatte, durfte auf die Dauer nicht geleugnet werden, so auffallend und widerspruchsvoll auch manche Ergebnisse klangen. Man hörte von anarchistischen Anschlägen, die Gefangenen zu befreien, und hierdurch sollen die Behörden veranlasst worden sein, schon bald erst Reinsdorf, dann die anderen nach Leipzig überführen zu lassen. Nach Abschluss der Voruntersuchung wurde die Hauptverhandlung auf den 15. Dezember und die folgenden Tage vor dem Reichsgericht anberaumt.

Das riesenhafte Aufsehen, das die Sache erregte, bewirkte einen mächtigen Ansturm um Zutrittskarten, und auch aus fremden Ländern, sogar aus Amerika wurden Journalisten zu der Verhandlung entsendet. Doch nur eine kleine Anzahl Zuhörer fand Einlass, auch wurden die umfassendsten Sicherheitsregeln getroffen, zumal eine briefliche Drohung eingetroffen war, das Gerichtsgebäude in die Luft zu sprengen. Man ging in der Vorsicht so weit, dass dem Präsidenten Drenkmann am 15. Dezember der Zutritt erschwert wurde, weil er vergessen hatte, sich selbst mit einer Karte zu versehen.

Auf der Anklagebank sassen Reinsdorf wegen der Anstiftung zu den Attentaten, Bachmann wegen der Ausführung im Willemsenschen Kasino, Küchler und Rupsch wegen der auf dem Niederwalde und in Rüdesheim. Holzhauer wegen Beihilfe, namentlich wegen der Beschaffung des Dynamits, Reinbach, Söhngen und Töllner ebenfalls wegen Beihilfe. Reinsdorf bekannte sich auf Befragen zur anarchistischen Lehre und verteidigte sie mit Mut und Geschick, bestritt aber seine Schuld so lange, bis die anderen gar zu viel gestanden.

Bachmann gab den Vorfall bei Willemsen im ganzen zu, behauptete aber, die Gefährlichkeit des Stoffes nicht gekannt zu haben, da er mit dem Knalle nur den Honoratioren eine Lehre geben wollte. Am armseligsten benahmen sich Küchler und Rupsch. Jeder von ihnen räumte den Hergang beim Niederwald-Anschlage ein, wollte aber selbst das Gelingen des Attentates vereitelt und dem Kaiser das Leben gerettet haben, Küchler indem er absichtlich eine schlechte Zündschnur kaufte und das Dynamit in den Wasserdurchlass legte, wo es unbrauchbar werden musste, Rupsch, indem er seine Zigarre vor der Berührung mit der Schnur ausgehen liess und die Schnur durchschnitt. Seine Aussagen hatten noch einen, wenn auch geringen Grad von Möglichkeit für sich, während Küchler sich in handgreiflichster Weise festlog.

Bei ihren Geständnissen hielt auch Reinsdorf nicht länger zurück, sondern bekannte sich zu allem, suchte jetzt sogar die anderen möglichst zu entlasten. Mit einer gewissen Verachtung äusserte er von ihnen: „Mit solchem Menschenmateriel musste ich nun arbeiten!“, gab auch Rupsch seine Dummheit durch eine Handbe wegung an Stirn und Hals zu verstehen.

Von den Übrigen wurde Holzhauer sehr belastet, Reinbach, Söhngen und Töllner dagegen nur in geringerem Masse. Sie hatten den Besprechungen beigewohnt, doch konnte ihnen nicht nachgewiesen werden, dass sie von den eigentlichen Abmachungen viel gewusst hatten, auch führte Töllner an, dass er bei der wichtigsten Zusammenkunft sinnlos betrunken gewesen war.

Unter den Zeugen spielte Palm die unwürdigste Rolle, nämlich die des Lockspitzels schlimmster Art. Wegen der 40 Mark befragt, erklärte er, dieselben von einem gewissen Lohse empfangen zu haben, verweigerte aber die Auskunft darüber, ob letzterer noch am Leben sei, machte überhaupt von dem Rechte, seine Aussage zu verweigern, oft genug Gebrauch, so dass man einsah, kaum irgend einer der Angeklagten hatte ein so schlechtes Gewissen wie er.

Auch Gottschalk, der sich über den ganzen Hergang sehr genau unterrichtet zeigte, berief sich wiederholt auf „vertrauliche Mitteilungen“, deren Gewährsmänner er nicht nennen dürfe, ein deutlicher Beweis, welch starke Spionage im Spiele war.

So häuften sich die Belastungsmomente, und der Staatsanwalt konnte gegen Reinsdorf, Rupsch und Küchler Todesstrafe, gegen die anderen, ausser Töllner, hochgradige Freiheitsstrafen beantragen. Reinsdorf Verteidiger, Justizrat Fenner, gab sich viel Mühe, seinen Klienten zu retten, und wies dabei u.a. auf Reinsdorfs gebrochene Gesundheit, die ihm ohnehin kein langes Leben verhiess, hin. Aber Reinsdorf wollte nichts von Gnade wissen. In stolzem Ton verlangte er als Märtyrer zu sterben, dankte dem Verteidiger mit einer gewissen Hoheit für seine Bemühungen und rief aus: „Hätte ich zehn Köpfe, ich würde sie mit Freuden für die anarchistische Sache aufs Schaffot legen!“

Am 22. Dezember wurden er, Küchler und Rupsch zum Tode nebst Zusatzstrafen, Holzhauer zu 15, Bachmann zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt, Reinbach, Söhngen und Töllner freigesprochen. Reinsdorfs blieb ungebeugt, Küchler brach bewusstlos zusammen, Rupsch zitterte und weinte sehr. Die Freigesprochenen reichten den Verurteilten die Hand. Letztere wurden nach Halle überführt. Küchler und Rupsch legten Gnadengesuche ein. Reinsdorf verschmähte es und bat auch seinen Verteidiger in einem würdig gehaltenen Briefe, es zu unterlassen.

Ehe die Entscheidung des Kaisers gefallen war, ertönte die Kunde von einem neuen Attentate, das viele mit dem Niederwald-Prozesse in Beziehung brachten. In Frankfurt a.M. wurde in der Nacht zum 14. Januar 1885 der Polizeirat Rumpf vor seiner Wohnung mit einer Dolchwunde im Herzen gefunden und war nach wenigen Minuten eine Leiche. Von vornherein wurde der Verdacht laut, Anarchisten hätten ihn aus Rache ermordet. Freilich warnten besonnenere Blätter vor solch übereilter Ausnutzung des Vorfalls und äusserten die Vermutung, der Täter sei in den Kreisen der Zuhälter, mit denen Rumpf stets auf gespanntestem Fusse gelebt hatte, zu suchen. Hiergegen protestierte Most in seiner jetzt in Amerika erscheinenden „Freiheit“ und reklamierte die Tat unbedingt für den Anarchismus. Dadurch wurde er aber, ungewollt freilich, förmlich auf Spuren gegen den Anarchismus hingewiesen. Bald wurde denn auch ein junger Anarchist, der Schuhmacher Lieske in Bockenheim unter verdächtigen Umständen ergriffen.

Ob Reinsdorf wohl im Zuchthaus zu Halle erfahren hat, dass sein Todfeind Rumpf aus der Welt geschafft war? Es wäre ihm sicher eine große Genugtuung gewesen, ist aber kaum anzunehmen. Am 31. Januar vollendete er sein 36. Lebensjahr und schaute mit Ruhe dem Ende durch das Henkerbeil entgegen. Viele vermuteten, der Kaiser würde nur gegen ihn das Todesurteil bestätigen, da doch Küchler und Rupsch im Vergleich zu ihm herzlich unbedeutende Gesellen waren. Doch machte Wilhelm I. nur gegenüber Rupsch vom Rechte der Begnadigung Gebrauch, wohl mit Rücksicht auf dessen kindische Unreife, und weil es doch nicht gänzlich ausgeschlossen war, dass er im letzten Augenblicke den Mut verloren und die Explosion hintertrieben hatte, und begnadigte ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus.

Wenn man aber erwartete, Rupsch werde hierüber hoch erfreut sein, irrte man. Als am 6. Februar dem Verurteilten die Entscheidung eröffnet wurde, stellte Rupsch sich verzweifelt an und verlangte unbedingt Freilassung. Küchler verlor sehr den Mut und nahm geistlichen Beistand an, beteuerte auch immer wieder, Reinsdorf habe ihn ins Unglück gestürzt.

Reinsdorf allein blieb todesmutig. An seinem Bruder Bruno richtete er einen geradezu ergreifenden Brief, in welchem er ihn bat, nicht zu trauern, denn bei seinem schweren Leiden gewähre ihm der Gedanke an den raschen Tod Erleichterung, ihn ferner ermahnte, sich gründlich der Eltern und Geschwister anzunehmen, sich von blöden Vergnügungen fernzuhalten und dergl.

Auf dem nächsten Morgen war seine und Küchlers Hinrichtung angesetzt. Reinsdorf schlief ruhig und war am morgen des siebenten völlig gefasst und kühn. Mit Appetit genoss er als Henkersmahlzeit Bouillon, Beefsteak, Buttersemmeln und Wein, rauchte dann und sang: „Stiefel muss sterben!“ Festen Schrittes liess er sich auf den Hof, wo das Schaffot errichtet war, führen. Als er dem Scharfrichter Krauts übergeben wurde, rief er mit lauter Stimme: „Nieder mit der Barbarei, es lebe die Anarchie!“ Dann blitzte das Beil und trennte ihm das Haupt vom Rumpfe. Küchler, der nach ihm abgeführt wurde, war völlig gebrochen, leistete aber doch noch verzweifelten Widerstand, bis auch ihn der Todesstreich traf.

Noch zwei Opfer der schweren Ereignisse endeten im Jahre 1885 eines gewaltsamen Todes. Am 19. September wurde Holzhauer in seiner Zelle erhängt gefunden. In Frankfurt a.M. stand Lieske wegen der Ermordung Rumpfs vor den Geschworenen. Er bestritt alle und jede Schuld, auch belasteten ihn nur Indizien und noch dazu verhältnismässig schwache. Dennoch gewannen die Geschworenen es über sich, ihn für schuldig zu befinden. Er wurde zum Tode verurteilt und endete am 17. November in der Strafanstalt Wehlsheiden bei Kassel auf dem Schaffot, noch bis zum letzten Augenblicke seine Unschuld beteuernd.

Bis heute sind nicht nur daran ernste Zweifel laut geworden, dass er den tödlichen Stich geführt hat, sondern auch, ob er auch nur Mitwisser der Tat gewesen, ja, ob Rumpf überhaupt von Anarchisten beseitigt worden ist. Nicht verschwiegen darf werden, dass der Staatsanwalt Frehse, der sein Todesurteil durchsetzte, später in Irrsinn verfiel.

Von den 1884 Verurteilten hat Bachmann seine Strafe abgesessen, während Rupsch noch jetzt im Zuchthause lebt. Palm dagegen, der wohlbestallte Kronzeuge, fand bald einen einträglichen Posten als Aufseher im Arbeitshause zu Brauweiler und hat jetzt lohnende Arbeit bei der Garnison-Verwaltung in Köln. Sein Name wurde in innigster Verbindung mit demjenigen Gottschalks in der Ziethenschen Mordaffäre genannt. Männer, die sich Ziethens annahmen, verlangten, Palm sollte darüber vernommen werden, welche Rolle er 1883 im Dienst Gottschalks gespielt hatte, damit die Machenschaften des letzteren einer gehörigen Beleuchtung unterzogen würden. Leider blieb es vergeblich, doch lässt gerade das tief blicken.

Ja, lehrreich ist sie nach vielen Seiten hin, die Geschichte von August Reinsdorf und der Niederwald-Verschwörung.


Schütte, Max. August Reinsdorf und die Niederwald-Verschwörung. a-verbal-Verlag, Berlin 1983 (Nachdruck von 1902).
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