Wolfi Landstreicher

Angst vor dem Konflikt

November 2014

Das ist wahrhaftig nicht dein Fehler, dass Du gegen Mich Dich spannst und deine Absonderlichkeit oder Eigentümlichkeit behauptest: Du brauchst nicht nachzugeben oder Dich selbst zu verleugnen.“ – Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum

Immer wenn mehr als ein paar Anarchisten zusammen kommen, gibt es Streitereien. Dies ist keine Überraschung, da das Wort „Anarchist“ benutzt wird, um eine breite Palette von sich häufig widersprechenden Ideen und Praktiken zu beschreiben. Der einzige gemeinsame Nenner ist das Verlangen, befreit von Autorität zu sein, und Anarchisten sind sich sogar nicht mal einig, was Autorität ist, geschweige denn, welche Methoden sich eignen, um sie zu zerstören. Diese Fragen bringen viele weitere hervor und so sind Streitereien unausweichlich.

Die Streitereien stören mich nicht. Was mich stört, ist der Fokus, der darauf gelegt wird, zu einer Einigung zu kommen. Es wird davon ausgegangen, dass, „weil wir alle Anarchisten sind“, wir alle wirklich die gleiche Sache wollen; unsere scheinbaren Konflikte müssen lediglich Missverständnisse sein, die wir zusammen ausdiskutieren können, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Wenn sich jemand weigert, Sachen auszudiskutieren und darauf beharrt, seine Differenzen zu erhalten, wird dieser als dogmatisch betrachtet. Dieses Beharren, einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist vielleicht eine der signifikantesten Ursachen der endlosen Dialoge, die so häufig den Platz des Handelns einnehmen, um unser Leben nach unseren eigenen Bedingungen zu gestalten. Dieses Bestreben, einen gemeinsamen Nenner zu finden, schließt ein Leugnen von wirklich realen Konflikten ein.

Eine häufige Strategie, um Konflikte zu dementieren, ist es, zu behaupten, dass eine Streiterei bloß eine Unstimmigkeit von Wörtern und deren Bedeutung ist. Als würden die Wörter, die man benutzt und wie man sie benutzt, keine Verbindung zu seinen Ideen, Träumen und Verlangen haben. Ich bin davon überzeugt, dass nur sehr wenige Streitigkeiten lediglich von Wörtern und deren Bedeutung handeln. Diese wenigen Streitereien könnten einfach gelöst werden, wenn die involvierten Individuen klar und präzise erklären würden, was sie meinen. Wenn Individuen nicht mal zu einer Übereinstimmung darüber kommen, welche Wörter zu benutzen und wie sie zu benutzen sind, weist dies darauf hin, dass deren Träume, Verlangen und Denkweisen so weit auseinander liegen, dass sie nicht mal innerhalb einer einzelnen Sprache eine gemeinsame Ausdrucksweise finden können. Der Versuch, eine solche immense Kluft auf bloße Semantik zu reduzieren, ist ein Versuch, einen sehr realen Konflikt und die Einzigartigkeit der beteiligten Individuen zu leugnen.

Die Leugnung eines Konflikts und der Einzigartigkeit von Individuen spiegelt vielleicht einen Fetisch für Einheit wider, der von Resten des Linkstums oder Kollektivismus stammt. Einheit wird seid jeher von der Linken hoch geschätzt. Da die meisten Anarchisten, trotz ihrer Versuche, sich von der Linken zu trennen, bloße anti-staatliche Linke sind, sind sie davon überzeugt, dass nur eine vereinigte Front diese Gesellschaft zerstören kann, die uns ständig in nicht von uns gewählte Einheiten zwingt, und wir deswegen unsere Unterschiedlichkeiten überwinden müssen und uns für die „gemeinsame Sache“ zusammen tun müssen. Aber wenn wir uns selbst der „gemeinsamen Sache“ hingeben, sind wird gezwungen, den kleinsten gemeinsamen Nenner der Einigung und des Kampfes zu akzeptieren. Die Einheiten, die auf diese Weise geschaffen werden, sind falsche Einheiten, welche nur durch die Unterdrückung der einzigartigen Verlangen und Leidenschaften der involvierten Individuen gedeihen und sie in eine Masse verwandeln. Solche Einheiten unterscheiden sich nicht von der Formierung von Arbeitskräften, die eine Fabrik am Laufen halten, oder der Einheit des gesellschaftlichen Konsens, welcher die Autoritäten an der Macht und die Menschen in der Reihe hält. Masseneinheiten können, da sie auf der Reduzierung des Individuums zu einer allgemeinen Einheit basieren, niemals eine Grundlage für die Zerstörung von Autorität sein, sondern nur für ihre Festigung in der einen oder anderen Form. Da wir Autorität zerstören wollen, müssen wir von einer anderen Grundlage ausgehen.


Für mich bin ich selbst ist diese Grundlage – mein Leben mit all seinen Leidenschaften und Träumen, seinen Verlangen, Projekten und Begegnungen. Von dieser Grundlage aus mache ich mit niemandem „gemeinsame Sache“, sondern kann häufig Individuen begegnen, mit welchen ich eine Affinität habe. Es mag sein, dass dein Verlangen und Leidenschaft, deine Träume und Projekte sich mit meinen decken. Begleitet von einem Beharren auf Verwirklichung entgegen jeder Form von Autorität, ist eine solche Affinität die Grundlage für eine aufrichtige Einheit zwischen einzigartigen, aufständischen Individuen, die nur so lange besteht, wie diese Individuen es wünschen. Sicherlich kann das Verlangen nach der Zerstörung von Autorität und Gesellschaft uns dazu bewegen, eine aufständische Einheit anzustreben, die einen großen Umfang bekommt, aber niemals als eine Massenbewegung; stattdessen müsste sie eine Übereinstimmung von Affinitäten zwischen Individuen benötigen, die darauf bestehen, ihr Leben ihr Eigen zu machen. Diese Art von Aufstand kann nicht durch eine Reduktion von unseren Ideen auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner geschehen, welchem jeder zustimmen kann, sondern nur durch die Anerkennung der Einzigartigkeit jedes Individuums, eine Anerkennung, die die realen Konflikte, die zwischen Individuen existieren – unabhängig wie wild sie auch sein mögen – als Teil der unglaublichen Fülle an Interaktionen einbezieht, die die Welt uns zu bieten hat, sobald wir uns der sozialen Ordnung entledigen, welche uns unserer Leben und Interaktionen beraubt hat.


Entnommen aus "Erstürmung des Horizonts", Nr. 1, ohne Ort, November 2014, S. 28-29.
Originaltitel: "Fear of Conflict", in: Willful Disobedience, Volume 1, Ende der 1990er.